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Von 0,3 auf über 30 Prozent Wähleranteil

Die unglaubliche Geschichte der Wahlverliererin SVP

Von fünf auf vier Sitze zurück: Die SVP St.Gallen hat am 20. Oktober 2019 verloren. Das aber von einem sehr hohen Stand aus. Denn vor dem jüngsten Verlust hat die SVP den Kanton förmlich überrollt. Dabei sprach in den Anfängen wenig dafür. Ein Rückblick.

Stefan Millius am 23. Oktober 2019

Die Geschichte der SVP des Kantons St.Gallen, wie wir sie heute kennen, begann 1992. Damals wurde die Partei gegründet, die nach den letzten Wahlen vier von zwölf Nationalratssitzen belegt. 27 Jahre: Das ist in der politischen Zeitrechnung ein zarter Hauch. Es ist nichts verglichen mit den traditionsreichen Geschichten von CVP, FDP oder SP, selbst im Vergleich mit den Grünen ist die SVP ein wahrer Hänfling. Dass wir heute von einem Verlust sprechen, wenn die SVP einen von fünf Sitzen einbüsst, ist im Grunde absurd. Die wahre Frage müsste lauten: Wie wird eine Partei innerhalb eines Vierteljahrhunderts zu einer derart dominanten Macht mit einem Wähleranteil von immer noch über 30 Prozent?

Die Antwort ist: Sehr viele Leute machten zunächst sehr viele Dinge falsch, bis einige wenige Leute Anfang der 90er-Jahre sehr vieles richtig machten.

Ohne Aufbau

2017 erschien eine Festschrift zum 25-Jahr-Jubiläum der St.Galler SVP. Sie gibt einen guten Einblick in frühe Versuche, die SVP auch hier aufzubauen. Die ersten gehen auf die 60er- und 70er-Jahre zurück. Damals hatte die Partei noch keine eigentlichen Strukturen, man versuchte sein Glück mit ad-hoc-Listen bei Wahlen. Das Problem: Klappt es nicht, schlafen die Bestrebungen sofort wieder ein, weil der Unterbau fehlt. Die SVP hatte einige Köpfe, aber keine Basis. 0,3 Prozent Wähleranteil war das beste Ergebnis einer SVP-Liste jener Zeit. Ein Hundertstel von heute.

Danach wurde ein Versuch gestartet, die SVP in der Stadt St.Gallen zu installieren. Treibende Kräfte waren Gewerbler und Detaillisten. Aber auch hier blieb der Erfolg aus. 1983 dann die Gründung auf kantonaler Ebene. Der erste Kantonalsekretär war der damals 28 Jahre junge Manfred Trütsch, der heutige ACS-Präsident. Und dieses Mal kam der Anstoss aus der Region Alttoggenburg. Anlass war wie schon in der Stadt St.Gallen die Tatsache, dass sich ein Teil des Gewerbes von den angestammten bürgerlichen Parteien nicht ausreichend vertreten fühlte.

Zu früh eingestiegen

Die junge Partei, und das war wohl ein Fehler, mischte sogleich mit bei den Nationalratswahlen. Auf der Liste war unter anderem ein gewisser Manfred Zemp, der viele Jahre später erfolglos für die «neue» SVP Regierungsrat werden wollte. Es reichte für 1,9 Prozent Wähleranteil. Und es sind solche gescheiterten Versuche, die den Tod eines jungen Pflänzchens bedeuten, wenn man es vorher nicht einige Zeit hegt und pflegt.

Dass die SVP damals nicht weiterkam im Kanton St.Gallen, hat verschiedene Gründe. Zum einen fehlten die Themen, die später aufkamen: EWR beziehungsweise EU und Migration. Gewerbethemen nahme auch die anderen bürgerlichen Parteien auf, da herrschte ein Verdrängungskampf, den den die noch junge SVP nicht gewinnen konnte. Zum anderen nahm der Kulturkampf zwischen CVP und FDP damals immer noch so viel Raum ein, dass wohl kaum einer einer neuen Kraft die Stimme schenken wollte.

Reaktiviert

In diesem Sinne, so wird es in der erwähnten Festschrift festgehalten, muss die Gründung der SVP Kanton St.Gallen im Jahr 1992 eher als «Reaktivierung» bezeichnet werden, es gab ja früher eine SVP, die dann wieder einschlief. Aber dieses Mal klappte es, und das aus zwei Gründen. Erstens ging diese Generation sehr viel sorgfältiger ans Werk. Und zweitens wurde der jungen Partei ein Thema geschenkt: Der EWR.

Dessen Ablehnung im Dezember 1992 unter Führung von Christoph Blocher euphorisierte viele konservative Kräfte im Land, und manche von ihnen sahen ihre Haltung in den bestehenden Parteien nicht abgedeckt. Dazu kamen viele, welche die Politik durch diese Abstimmung neu entdeckten. Toni Brunner ist ein Kind dieser Zeit, jedenfalls politisch. Er gehörte, obwohl damals noch ein Teenager, zu den treibenden Kräften bei der Gründung. Der bauernschlaue Toggenburger sah ein Vakuum im Kanton: Das Volk wollte keinen Beitritt zum EWR, aber niemand holte diese Leute ab. Geburtshelfer war der Thurgauer Ständerat Hans Uhlmann.

Arbeit hinter den Kulissen

Entscheidend ist, was bis zu den ersten eidgenössischen Wahlen 1995 geschah. Früher hatte die SVP viel zu früh versucht, an Wahlen teilzunehmen, doch die Leute, die sich eine politische Karriere erhofft hatten, verschwanden schnell wieder, wenn es nicht klappte. Nun baute die Partei zuerst ein Fundament: Einerseits mit Ortsparteien, andererseits, indem Leute, die bereits ein Amt hatten, bearbeitet wurden, zur SVP zu wechseln. Es war die wenig glamouröse Knochenarbeit, die dieses Mal konsequent gemacht wurde.

Das erste aufsehenerregende Ereignis aus dem Jahr 1995 ist gut in Erinnerung: Toni Brunner holte einen Nationalratssitz.

Aber das war auch gleich die erste innerparteiliche Hürde. Denn das offizielle Gesicht der St.Galler SVP war ihr Präsident, der Wittenbacher Albert Schwarzmann, und alle waren davon ausgegangen: Wenn es die SVP in den Nationalrat schafft, dann mit ihm. Dass ihm ein junger Bauer aus dem Toggenburg vor der Sonne stand, war nicht unbedingt vorteilhaft für die interne Chemie.

Schwarzmann war bald Geschichte, Brunner die neue starke Figur. Seither kannte die SVP im Kanton St.Gallen fast nur noch eine Richtung: Vorwärts. Sie heimste Wahlerfolg um Wahlerfolg ein. Hätte in der einstigen CVP-Hochburg St.Gallen vor 30 Jahren jemand prognostiziert, dass eine Partei ohne jede Tradition im Kanton einmal stärkste Kraft sein würde – man hätte ihn für wahnsinnig erklärt.

Von der Erfolgsstory lernen

Und deshalb ist der Verlust eines Nationalratssitzes zwar das, was es ist: Ein Verlust. Gemessen an der kurzen Geschichte der Partei und der Tatsache, dass diese die politische Landschaft im Kanton in 27 Jahren völlig auf den Kopf gestellt hat, ist es im Grunde aber nur eine unbedeutende Fussnote. Wer jetzt gerade das Stimmrechtsalter erreicht, ahnt wohl nicht einmal, dass die vorherrschende Partei nicht viel älter ist als er. Für ihn war die SVP immer da - was sie eben keineswegs war.

Was andere bürgerliche Parteien tun müssten, statt sich über einzelne Sitzverluste der SVP zu freuen: Sich fragen, wie es möglich war, innerhalb von wenigen Legislaturen zur Nummer 1 zu werden. Und sich dann vielleicht das eine oder andere Element dieses Rezepts abzuschauen. Denn man muss die SVP nicht einmal mögen, um das zuzugeben: Es ist rückblickend eine unglaubliche Erfolgsstory. Trotz des letzten Wahlsonntags.

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Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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