Wir sind in die nächste Phase der Corona-Diskussion getreten: Das grosse Hickhack. Eine Phase, die in vielen Krisen zu beobachten ist. Das Mühsame für uns Krisenkommunikatoren ist der Grad der Unversöhnlichkeit und Emotionalität zwischen den verschiedenen Meinungsgruppen.
Dabei können wir im Kampf um die öffentliche Aufmerksamkeit sehr unterschiedliche Rollen unterscheiden:
1. Die Behörden-Groupies und Regierungsanbeter
Für sie sind Massnahmen der Behörden sakrosankt, Daniel Koch der «Schweizer des Jahres» – und der Bundesrat der Massstab aller Dinge. Sie schreiben erboste Leserbriefe, weil sich Menschen erfrechen, am Wochenende eine Ausfahrt zu machen (was ja nicht verboten ist) oder gar eine Skitour auf dem Flüela-Pass (was ebenfalls nicht verboten ist, die Schliessung des Flüela-Passes der Bündner Kantonspolizei erfolgte wegen dem Parkier-Chaos und nicht wegen Verstössen gegen die Corona-Verordnung). Wenn die Behörden-Groupies Nachbarn im Garten grillieren sehen, rufen sie die Polizei, die dann kommt und feststellt, dass kein Verstoss vorliegt, weil die Abstandsregeln eingehalten werden, nicht mehr als fünf Personen anwesend waren usw. Aber es hätte ja sein können. Die Stasi in Ostberlin hätte ihre helle Freude. Der IM Ostschweiz ist auferstanden.
2. Die Mainstream-Wissenschafter
Diese Experten halten das Corona-Virus für gefährlich und sind die Treiber hinter den Massnahmen, die Behörden und Regierungen in aller Welt erlassen. Wir nennen sie Mainstream, weil sie im Strom dessen schwimmen, was zurzeit die offizielle Lesart darstellt. Die Mainstream-Wissenschafter sehen in zwei Umständen eine hohe Gefährlichkeit des Corona-Virus: Zum einen verbreitet sich das Virus sehr schnell, begünstigt von der Tatsache, dass noch niemand gegen dieses Virus immun war. Zum anderen gehen die Mainstream-Wissenschafter von einer «x-fach höheren Sterblichkeit» aus als bei «normalen» Grippeviren. Um dem Corona-Virus Einhalt zu gebieten, verlangen sie nach weitgehenden Massnahmen, am liebsten der totalen Ausgangssperre. Nur so könne verhindert werden, dass das Gesundheitssystem in der Schweiz zusammenbreche und Menschen nur deshalb sterben müssten, weil keine Beatmungsgeräte mehr verfügbar seien.
Das Problem der Mainstream-Wissenschafter ist, dass ihre Worst-Case-Szenarien nicht eingetroffen sind: Die Hälfte der Schweizer Spitalbetten und Beatmungsgeräte sind immer noch frei, was zwei anderen Gruppen, den Mainstream-Kritikern wie auch den Behörden-Kritikern (siehe unten) Aufwind verleiht. Sie verweisen deshalb auch auf die Situation in anderen Ländern, wo die Verhältnisse wesentlich schlimmer seien als hier, oder darauf, dass die grosse Welle erst nächste Woche komme. Das erzählen sie indes schon seit drei Wochen. Teilweise flüchten sie sich in ihren Argumenten auch in recht abstruse Gefilde. Eine ihrer führenden Stimmen aus dem Tessin stellte schon Vergleiche mit Ebola an. Oder vermutet an anderer Stelle, dass auch Jogger eine erhöhte Gefahr für Infektionen darstellen würden. Dafür gibt es zwar keinerlei wissenschaftlichen Beleg, aber für die Aufrechterhaltung des Narrativs scheint das egal zu sein.
3. Die Gutmenschen
Für diese Gruppe von Diskussionsteilnehmern ist jedes Leben unbezahlbar. In Facebook-Chats sind sie völlig entsetzt, wenn Ex-Botschafter Thomas Borer in Frage stellt, ob einem 85-jährigen Patienten eine 50-Millionen teure Therapie finanziert werden soll, um sein Leben vielleicht noch um weitere fünf Jahre verlängert werden könnte. Mit grossem Entsetzen wird an die schlimme Zeit der Nazis erinnert, die zwischen lebenswertem und anderem Leben unterschieden. Hoch emotional und hoch empört finden sie, dann könne man ja grad alle Menschen ab einem bestimmten Alter euthanasieren. Das Kostenargument blenden sie völlig aus, weil man den Wert eines Menschenlebens nicht mit Geld aufwiegen könne. Auf die Frage, wer das dann am Ende alles bezahlen soll, kommen drei unterschiedliche Reaktionen: Entweder gar keine. Oder aber, dass der Preis einer Therapie für ein reiches Land wie die Schweiz doch kein Problem sein dürfe. Oder, zum Schluss: die Kapitalismuskeule. In etwa so, dass jetzt der Profit einmal zurückstehen müsse hinter dem Schutz des Lebens. Gerne verweisen sie auch auf die Bilder aus Italien, Spanien oder Frankreich und sind überzeugt, dass wir es in der Schweiz nicht soweit kommen lassen dürften. Koste es, was es wolle. Und das meinen sie wörtlich.
4. Die Mainstream-Kritiker
Diese Gruppe argumentiert meist weniger politisch-wirtschaftlich, sondern kritisiert die Einschätzungen der Virologen und Epidemiologen, welche mit zum Teil drastischen Bildern vor den Folgen des Corona-Virus warnen und damit die Basis legen für die Behördenentscheide. Viele dieser Kritiker sind selbst Ärzte und Professoren, und ihre Zahl ist unterdessen so gross, dass man feststellen muss, dass sich die Wissenschaft entweder ein bemerkenswert grosses Reservoir an Kollegen mit äusserst frivolem wissenschaftlichem Ansatz hält - oder aber an der geäusserten Kritik ist vielleicht doch das eine oder andere dran.
Diese Kritiker machen beispielsweise darauf aufmerksam, dass unterschieden werden sollte zwischen Menschen, die «an» und solchen, die «mit» Corona sterben. Ihre These: Viele der Corona-Toten wären sowieso an ihrer Vorerkrankung gestorben, und bei vielen sei auch nicht das Corona-Virus für den Tod verantwortlich – auch jeder 96-jährige, der mit Multiorganschäden auf einer Palliativstation gepflegt werde, falle unter die Corona-Toten, wenn bei ihm nur das Virus nachgewiesen werde. Heftig gestritten wird dann darüber, ob die Anzahl durchschnittlicher Verstorbener überhaupt höher sei als in anderen Jahren ohne Corona. Die Wissenschafts-Kritiker sehen keine erhöhte Sterblichkeit. Auf den Einwurf, in Bergamo seien aber über Wochen täglich 20 statt wie früher durchschnittlich 10 Menschen gestorben, argumentieren sie entweder, man müsse einen grösseren geografischen Kreis betrachten, oder aber, dass die Region um Bergamo halt eine der schlimmsten sei, was die Luftbelastung betreffe.
5. Die Pseudo- und Nicht-Wissenschafter
Sie machen alle zur Schnecke, die es wagen, auf dem Facebook-Profil Videos von Virologen, Pneumologen und Epidemiologen zu posten, die kritische Einwürfe machen. Schwafeln von «falschen Fakten» (die sind schon sprachlich etwa so falsch so wie schwarze Schimmel), verklären dafür ihre eigenen Einschätzungen und Interpretationen zu «Fakten» und merken vor lauter Ignoranz und Überheblichkeit gar nicht, dass in den meisten diskutierten Punkten gegenwärtig kaum Fakten vorliegen, zumindest keine belastbaren. Etwa zur Frage, wie hoch die Sterblichkeit dieses Virus nun tatsächlich ist. Sie wissen es aber immer besser als die Mainstream-Kritiker (siehe oben), welche sich ein ganzes Leben lang mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Um die eigene intellektuelle Brillanz zu belegen, werden Kritiker und auch solche, welche nur eine kontroverse Diskussion in Gang setzen möchten, gerne abwechslungsweise als Aluhüte, Faschistoide oder Verschwörungstheoretiker bezeichnet. Unter den Pseudo-Nicht-Wissenschaftern befinden sich – zu unserem Leidwesen – oft genug auch Kommunikationsfachleute, Lehrer, Journalisten und Ex-Chefredaktoren; auch solche aus der Ostschweiz.
6. Die Fakten-Checker
Eine Unterkategorie der Pseudo- und Nicht-Wissenschafter sind die «Fakten-Checker», die es sich zur Aufgabe machen, die Mainstream-Kritiker als Aluhüte oder Fake-News-Schleudern zu überführen. Dabei nehmen es nicht alle so genau bei den Aussagen, die sie widerlegen wollen und unterstellen den Wissenschafts-Kritikern auch gerne mal etwas, was die so gar nicht gesagt haben. Wehe, sie finden auch nur eine klitzekleine Aussage, die sich im späteren Verlauf als nicht haltbar erweist. Dann posaunen sie gross heraus: «XY ist widerlegt». Gleichzeitig werden die Mainstream-Wissenschafter in der Regel keinen Faktenchecks unterzogen, auch wenn deren Aussagen sich zum Teil als genauso unhaltbar erweisen als solche der Mainstream-Kritiker.
7. Die Behörden-Kritiker
Ihre Kritik richtet sich gegen die Interessensabwägung der Behörden bei der Festlegung von Massnahmen. Konkret kommt diese Kritik zurzeit insbesondere aus wirtschaftsnahen Kreisen und aus Bevölkerungsschichten, welche die Massnahmen gegen das Virus für deutlich schädlicher betrachten als die Folgen des Virus selbst. Weil sie überzeugt sind, dass die wirtschaftlichen Einschränkungen Existenzen zerstören werden und damit auf Jahre viel Leid verursacht wird, das heute einfach noch nicht sichtbar ist. Die immer noch halbleeren Spitäler und die Kurzarbeit von Spitalpersonal und Ärzten sind für sie genug Beleg dafür, dass die Massnahmen der Behörden viel zu streng waren oder zumindest heute sind. Über Länder wie Italien, Spanien oder Frankreich und die dortigen Situationen zu sprechen, davor hüten sie sich wie der Teufel das Weihwasser. Und wenn sie nicht darum herumkommen, verweisen sie gerne darauf, dass dort das Gesundheitssystem eben viel schlechter sei als in der Schweiz; oder sie verweisen auf die Mainstreamkritiker (s. oben).
8. Die tatsächlichen Verschwörungstheoretiker
Natürlich gibt es auch jene Gruppe, welche hinter dem Corona einen bewussten Anschlag irgendeiner dubiosen Loge, Religionsgemeinschaft oder Nation gegen irgendeine andere Personengruppe sehen. Da wird vermutet, Bill Gates stecke hinter der ganzen Sache, weil er sich schon vor Jahren intensiv mit Pandemieszenarien auseinandergesetzt hatte und das alles kommen sah. Andere sind überzeugt, das Virus sei von den Chinesen bewusst freigesetzt worden, um die Weltherrschaft zu erreichen, und diese wiederum sehen in der Pandemie eine Attacke der Amerikaner mit biologischen Waffen. Alle diese obskuren Theorien haben eines gemeinsam: Sie sind nicht stichhaltig, es gibt keine belastbaren Belege. Die Thesen dieser oftmals intellektuell Unterversorgten mit den Mainstream-Kritikern in einen Topf zu werfen, halten wir indes für sehr gefährlich.
9. Die Normalos
Und die «Normalos»? Viele von ihnen haben sich aus der Debatte zurückgezogen, weil sie die Schnauze voll haben von all den Besserwissenden, welche die Wahrheit gepachtet zu haben glauben in einer Situation, in der wir schlichtweg vieles nicht (oder: noch nicht) wissen und Behörden wie Regierungen viele Entscheide im Blindflug oder zumindest mit stark eingeschränkter Sicht fällen müssen. Das ist das Bedauerlichste an dieser Phase, denn die Zuspitzung der Debatte, ob in den alten oder neuen Medien, hilft nicht bei der Bewältigung der Krise, sondern treibt die Gesellschaft weiter auseinander.
Roger Huber (1964) und Patrick Senn (1969) sind ehemalige Ostschweizer Journalisten, die lange Jahre bei nationalen Medientiteln gearbeitet haben. Heute unterstützen Sie Organisationen und Führungskräfte in der Krisenkommunikation und sind Gründungsmitglieder des Verbandes für Krisenkommunikation vkk.
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