Im 19. Jahrhundert öffneten sich in der Schweiz tiefe gesellschaftliche Gräben. Sie haben bis heute Spuren hinterlassen, auch in der Ostschweiz.
Wahlkampf der rustikalen Art: Eindringlich warnte der St. Galler Bischof Aloisius Scheiwiler in den 1930er Jahren vor der Wahl der SP. Deren Parteimitglieder galten als «gottlos». Die SP ihrerseits brandmarkte diesen klerikalen Aufruf zur Nicht-Wahl als «verwerfliche Wahldiktatur» und rief aus Protest zur ungültigen Stimmabgabe auf.
Soziale Veränderungen
Wie war es zu dieser politischen Polarisierung gekommen? Die Industrialisierung hatte im 19. Jahrhundert die neue Bevölkerungsgruppe der Arbeiterinnen und Arbeiter hervorgebracht. Ihre Familien lebten oft in prekären Verhältnissen und ohne soziale Absicherung gegen Krankheit, Unfall und Alter. Ein Teil des Industriepersonals liebäugelte daher mit sozialistischem Gedankengut.
Auch die katholische Kirche reagierte auf die gesellschaftlichen Veränderungen. Der damalige Papst Leo XIII. wandte sich in der Enzyklika «Rerum novarum» von 1891 gegen die Lösungsvorschläge des Sozialismus, der die gerechte Umverteilung des Kapitals anstrebte.
Das Kirchenoberhaupt setzte auf Selbsthilfe der Arbeiterschaft durch Zusammenschlüsse. Sein Aufruf fruchtete. Alois Scheiwiler gründete 1899 in St. Gallen den «Christlichsozialen Arbeiterinnen und Arbeiterverein» als Alternative zum Sozialismus und die Gewerkschaften.
Im selben Jahr wurde in der Kantonshauptstadt zudem die «Krankenkasse des katholischen Arbeitervereins» gegründet. Aus ihr entwickelte sich die «Christlichsoziale Kranken- und Unfallkasse der Schweiz». Mittlerweile heisst sie CSS und ist die zweitgrösste Krankenkasse des Landes.
Weltanschaulich geprägte Vereine
Die Gründung der CSS-Krankenkasse ist ein exemplarisches Beispiel der Entwicklung im 19. und im frühen 20. Jahrhundert. Katholisch-konservativ, freisinnige sowie sozialistisch Gesinnte verbündeten sich unter anderem in eigenen Chören, Musik- und Turnvereinen. Zwischen den einzelnen Gruppierungen bestanden zum Teil erhebliche Animositäten.
Einige damals geborene Organisation bestehen bis heute, allerdings kaum mehr als Sammelbecken von politisch Gleichgesinnten: 1833 war der Eidgenössische Turnverein gegründet worden. Er war der Zusammenschluss von demokratisch und fortschrittlich gesinnten Bürgern. Aus ihm ging schliesslich der Schweizerische Turnverband (STV) hervor. 1919 war das Geburtsjahr des Schweizerischen Katholischen Turn- und Sportverbandes (KTV), der seine Ursprünge in katholisch-konservativen Teilen der Bevölkerung hat. Der 1923 ins Leben gerufene Schweizerische Arbeiter Turn- und Sportverein (SATUS) wurzelt in sozialistisch gesinnten Gruppen.
Historiker sprechen vom «katholische Milieu». Mit diesem Begriff ist eine Gruppe gemeint, die sich von anderen gesellschaftlichen Bereichen abgrenzte und ihre eigene Lebenskultur entwickelte. Sie war in der Ostschweiz sehr präsent.
Katholiken schotten sich ab
Das «katholische Milieu» als Gemeinschaft innerhalb der Gesellschaft hatte sich vor allem nach der Gründung des liberalen Schweizer Bundesstaates von 1848 gebildet. Dieser entsprach nicht den Wertvorstellungen der katholisch-konservativen Kreise. In der Folge wandten sie sich vermehrt dem Papsttum zu und begann sich abzuschotten.
Als Auswirkung entstanden ab 1857 in den Gemeinden und auf Kantonsebene sogenannte Piusvereine. Sie widmeten sie speziell der Bewahrung und der Pflege der katholischen Kultur, in Abgrenzung zu den liberalen und aufklärerischen Bestrebungen.
Jünglingsverein
In weiteren Schritten wurde eine ganze Reihe von Vereinen gegründet, in deren Zentrum die Pflege und Förderung der katholischen Glaubens- und Sittenlehre stand. So kam 1861 in Ganterschwil zur Gründung einer der ersten katholischen Jünglingsvereine der Schweiz. Aus diesen Wurzeln entwickelte sich der Zentralverband der schweizerischen katholischen Jünglingsvereine. Aus ihnen entstand schliesslich Jungwacht Blauring.
Weiter wurden katholische Gesellen- sowie der Kolpingverein, die Handwerksgesellen religiös-sittlich betreuten, aus der Taufe gehoben. Auch Studierende schlossen sich in eigenen Vereinen zusammen. 1912 wurde zudem der Schweizerische Katholische Frauenbund ins Leben gerufen.
Eigene Zeitung und Bank
Verbandszeitschriften sowie Zeitungen verbreiteten das entsprechende Gedankengut. Ab 1874 war beispielsweise «Die Ostschweiz» zweimal täglich die publizistische Stimme der Katholisch-Konservativen.
Mit der «Sparkasse der Administration des katholischen Konfessionsteils des Kantons St. Gallen», kurz SPARAD, hatten die Katholiken auch ihre eigene Bank. 1994 wurde sie von der St. Galler Kantonalbank übernommen.
Mit konfessionell getrennten Schulen und Internaten verfügten die Katholiken über eigene Bildungseinrichtungen. Ältere Menschen erzählen davon, dass auch beim Einkaufen auf die konfessionelle Zugehörigkeit der Geschäftsinhaber geachtet wurde. Reformierte Unternehmer mussten sich katholische Geschäftspartner zusammenschliessen, um entsprechende Kunden anlocken zu können.
Stärkung des Zusammenhaltes
Das «katholische Milieu» wurde an kirchlichen Feiertagen in der Öffentlichkeit gut sichtbar, wenn es in Prozessionen durch die Gassen der Gemeinden und der Städte zogen.
«Wer in den 1920er-Jahren die Stadt Wil an katholischen Feiertagen besuchte, wurde Zeuge der grossen Mobilisierungskraft des katholischen Milieus», schreiben Verena Rothenbühler und Oliver Schneider in der 2020 erschienen neuen Wiler Stadtchronik. «Neben der Manifestation gegen aussen dienten die Fronleichnamsprozessionen aber auch der Stärkung des inneren Zusammenhalts», halten die beiden Historiker fest.
CVP als katholisches Sprachrohr
Wie stark dieser Zusammenhalt in den katholischen Kreisen lange war, zeigte sich auch an der Urne. Gemäss dem Historischen Lexikon der Schweiz errangen die CVP, heute die Mitte, von 1919 bis 1987 bei den Wahlen auf eidgenössischer Ebene jeweils einen Stimmenanteil von 21 Prozent. Sie erhielt vor allem von Katholikinnen und Katholiken Stimmen.
Gemäss dem Historischen Lexikon setzte die Aufweichung des «katholischen Milieus» nach 1960 ein. Gründe dafür waren steigender Wohlstand, der die Verwirklichung verschiedener Lebensentwürfe ermöglichte, im weiteren eine Pluralisierung der gesellschaftlichen und der individuelle Werte.
Adrian Zeller (*1958) hat die St.Galler Schule für Journalismus absolviert. Er ist seit 1975 nebenberuflich, seit 1995 hauptberuflich journalistisch tätig. Zeller arbeitet für diverse Zeitschriften, Tageszeitungen und Internetportale. Er lebt in Wil.
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