Ein Auto. Eine Kurve. Ein fast missglücktes Überholmanöver. Was hat das mit der aktuellen Situation und unserem Verhalten in der Krise zu tun? Ein Gastbeitrag von Nicolas Lindt.
Vor etwa zwei Wochen, an einem Sonntagnachmittag voller Frühling war ich unterwegs auf die Hulftegg, jener Pass, der den Kanton Zürich mit dem Kanton Thurgau verbindet. Ich befand mich auf der Fahrt zu einem Gesprächstermin, hatte es einigermassen pressant, sah mich aber unentwegt konfrontiert mit Sonntagsfahrern, die gemütlich über den Pass gondeln und sich auch nicht daran stören, wenn hinter ihnen ein Fahrer drückt, der etwas schneller fahren und die erlaubten Stundenkilometer doch etwas ausnützen möchte.
Aber das war nicht möglich. Vor allem für mich nicht, weil ich mich unmittelbar hinter einem solchen Sonntagsfahrer befand und ihn nicht überholen konnte. Man muss dazu noch sagen, es war ein spezieller Tag, weil an diesem Tag Vollmond herrschte und weil ich am nächsten Tag meinen Geburtstag hatte und mich darauf freute, gefeiert zu werden. Ich war guter Dinge, und wenn ich gut drauf bin, neige ich dummerweise zu Übermut. Doch Übermut, das wissen wir alle, tut selten gut.
Dann sah ich unverhofft eine Möglichkeit. Die Strasse vor mir schlängelte sich in Serpentinen den Berg hinauf, und ich konnte das obere, langgezogene Strassenstück gut überblicken. Kein Auto kam uns entgegen, auch kein Motorrad, und so beschloss ich dreist, in der Kurve zu überholen.
Das ist natürlich keine gute Idee. Aber ausnahmsweise kann ich es wagen, entschied ich. Also wechselte ich auf die Gegenfahrbahn und wollte den Schlendrian hinter mir lassen – als plötzlich, mitten in dieser Kurve total überraschend ein Sportwagen um die Ecke gefahren kam. Er war so niedrig, dass ich ihn vorher hinter der Leitplanke gar nicht hätte entdecken können.
In diesem ersten Moment - es ging natürlich um Zehntelssekunden – glaubte ich noch, das Überholmanöver werde gelingen. Doch der tiefliegende Rennwagen war schon zu nahe, also bremste ich brüsk und konnte gerade noch hinter dem Sonntagsfahrer wieder auf meine Fahrbahn hinüberwechseln. Mit bösem Gehupe brauste der Porsche an uns vorbei.
Das Hupen noch in den Ohren, setzte ich meine Fahrt auf der Passstrasse fort, noch immer hinter dem Sonntagsfahrer, der noch immer nur 50 fuhr. Doch vorerst hatte ich nichts mehr dagegen, dass er sich Zeit liess, denn so konnte ich mich erholen von meinem Schreck. Ich war natürlich unendlich dankbar, dass nichts passiert war, schickte meinem Engel ein Dankesgebet und versuchte mich zu beruhigen.
Aber das ging nicht. Was soeben beinahe geschehen war, wollte mich nicht in Ruhe lassen. Vor allem bewegte mich etwas, mit dem ich absolut nicht gerechnet hatte: Dass ich so ungeschoren davonkam. Dass niemand schimpfte mit mir, niemand mich büsste, niemand mir ins Gewissen redete. Ungestraft liess mich das Leben weiterfahren. Es schickte mir keinen Denkzettel vor die Nase. Ich erlitt keinen Motorschaden, der mich gezwungen hätte, irgendwo anzuhalten, sodass ich meinen Termin verpasst hätte. Ich konnte einfach so weitermachen, als ob nichts geschehen wäre. Das Leben liess mich frei.
Und genau diese Freiheit, selbst damit fertig zu werden, was ich getan hatte, überforderte mich. Ich hielt dann in Fischingen bei einer Tankstelle, weil ich tanken musste. Da stand ein älterer Herr, der auch gerade Benzin tankte – und am liebsten hätte ich ihn gebeten, mir die Leviten zu lesen. Ich hätte ihm die Geschichte meines Vergehens erzählt und er hätte dann mit mir schimpfen müssen. Aber ich habe ihn nicht gefragt. Er hätte es mir zuliebe getan. Oder er hätte den Kopf geschüttelt und wäre ins Auto gestiegen und weggefahren. Also liess ich es bleiben.
Doch der Gedanke, ungeschoren davongekommen zu sein, nagte weiter an mir. Ich erinnerte mich an die Kindheit, an die katholischen Kinder in unserer Klasse, die jeweils zur Beichte gingen und dem Pfarrer ihre Sünden gestanden.
Der Geistliche sprach dann mit ihnen ein ernstes Wort und ermahnte sie, es nicht wieder zu tun. Doch dann vergab er ihnen die Streiche, die Missetaten und Lügen und erteilte ihnen den Segen, worauf sie die Kirche befreit und entlastet verlassen konnten.
Genau das hätte ich jetzt gebraucht. Doch wir leben in einer anderen Zeit. Für ganz viele Menschen und auch für mich ist die Kirche keine Autorität mehr, deren Absolution ich benötige. Ich bin ein freier Mensch und kann mir nur selber vergeben.
Wäre das nur nicht so schwierig. Ich bin erwachsen, aber ich wünschte mir auf der Hulftegg wie ein Kind, für meinen sträflichen Leichtsinn gescholten zu werden. Ich wünschte mir, auf diese Weise von meinem Schuldgefühlen befreit zu werden. Ich selber konnte es nicht – und während ich weiterfuhr, erkannte ich den Zusammenhang zu unserer gegenwärtigen Situation.
Wir alle sind erwachsene Menschen und wurden im Grunde dazu erzogen, eigenverantwortlich zu handeln. Aber die meisten von uns haben diese Verantwortung an den Staat abgegeben. Nicht mehr die Kirche, sondern der Staat, das Bundesamt für Gesundheit ist unser neues Gewissen. Wir müssen nicht mehr selber entscheiden, was gut und was schlecht ist. Wir verzichten von vornherein selber darauf, überholen zu wollen - weil die Verantwortung für unser Handeln die neue Kirche, der Bundesrat, übernommen hat. Er lobt uns, wenn wir die Massnahmen brav befolgen, er schimpft mit uns, wenn wir nachlässig werden, und er bestraft uns, wenn wir sie ablehnen.
Die meisten Bürgerinnen und Bürger sind sogar richtig froh darum, dass sie sich um ihre Gesundheit nicht mehr selbst kümmern müssen. Wenn der Staat von ihnen verlangt, eine Maske zu tragen, dann tun sie es, wenn er von ihnen verlangt, sich testen zu lassen, dann tun sie es, und wenn er von ihnen erwartet, sich impfen zu lassen, dann reissen sie sich um den Impftermin. Sie gehen zum Arzt für die Injektion, so wie die Menschen früher zum Pfarrer gingen und beichteten. Der Virus ist ihre Sünde, ihr Makel, ihr Unvermögen, und die Spritze ist ihre Rettung, ihr Freispruch.
All das wurde mir klar, als ich weiterfuhr, den Thurgau durchfuhr, und ich dachte für mich: So darf ich nicht werden. Wenn ich mich unterwegs auf der Strasse entschliesse, in einer Kurve zu überholen, dann muss ich selber wissen, ob das eine gute Idee ist. Dann darf ich das Urteil darüber nicht dem Schicksal überlassen. Und wenn ich es tatsächlich versuche und um ein Haar einen Unfall baue, dann muss ich selber mit mir darüber ins Reine kommen.
Dasselbe gilt für meine Gesundheit. Wenn ich ungesund lebe, muss ich selber die Folgen tragen. Wenn ich krankheitsanfällig bin, muss ich mich selber schützen. Das kann ich nur, wenn ich frei bin. Meine persönliche Freiheit ist die Bedingung, dass ich eigenverantwortlich handeln kann. Kein Staat, keine Gesundheitsbehörde darf mich davon entlasten.
Auf der Passstrasse habe ich diese Freiheit. Wenn es aber um meine Gesundheit geht, bin ich seit einem Jahr nicht mehr frei. Wir alle sind nicht mehr frei. Wir können keine Fehler mehr machen, kein Risiko kalkulieren, keine Schuldgefühle mehr haben, wenn wir ungesund leben. Das alles wurde uns abgenommen. Für unsere Gesundheit trägt jetzt der Staat die Verantwortung.
Wehren wir uns dagegen. Kehren wir zurück auf die Hulftegg.
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. Neben dem Schreiben gestaltet er freie Trauungen und Abdankungen. Der Schriftsteller lebt mit seiner Familie in Wald und Segnas.
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