«Die Ostschweiz» präsentiert einen eigenen Adventskalender – mit Geschichten, Kommentaren und Hintergründen, die in den vergangenen Monaten bewegt haben. Mit einem Klick tauchen Sie ein in die Geschichte des Tages.
Stephanie Stadelmann musste das Schlimmste durchmachen, was einer Familie passieren kann: Ihre damals zweijährige Tochter stirbt durch einen Unfall. Aufgeben kam für sie nie in Frage. Stattdessen will sie mit ihrem Buch «Ich hätte mein Leben gegeben, um deines zu retten!» anderen Mut machen.
Fröhliches Kinderlachen erfüllt den Raum. Die zweijährige Kiana spielt und plappert vor sich hin. Ihre Mutter Stephanie tröstet die Kleine, als sie hinfällt. Malea, mit bald acht Jahren die älteste Tochter, ist in der Schule, der Vater Urs bei der Arbeit. Es sind Szenen, die sich wohl in jedem Familienhaushalt abspielen – und doch ist es bei der Familie Stadelmann anders. Denn eigentlich ist Stephanie Stadelmann Mutter von drei Töchtern. Ihre mittlere, Alia, starb durch einen Unfall mit nicht einmal zwei Jahren. Seither ist nichts mehr, wie es einmal war. Umso wichtiger ist es für Stephanie, dass sie über Alia reden kann. Denn: «Ich bin von Anfang an offen damit umgegangen. Wenn ich nicht mehr über meine Tochter reden könnte, würde sie noch einmal sterben.»
Ein Buch für die Ewigkeit
Mit ihrem Buch «Ich hätte mein Leben gegeben, um deines zu retten!» will sie anderen Betroffenen Mut machen. Damit sie nicht aufgeben. Ihren Weg finden, auch wenn dieser zunächst ausweglos erscheint. Ein Zeichen geben, dass sie in ihrer Trauer nicht alleine sind. Denn nach wie vor wird heutzutage viel zu oft über den Tod geschwiegen – insbesondere dann, wenn es ein Kind betrifft. Stephanie erzählt von Bekannten, die nicht wissen, wie sie mit dem Unfall umgehen sollen. Leute, welche die Strassenseite wechseln, wenn sie Stephanie unterwegs antreffen. Oder das betretene Schweigen, wenn sie einen Raum betritt. Menschen, die zwar über den Unfall reden. Aber nicht vor Stephanie oder ihrer Familie. Übel nimmt es ihnen die Ostschweizerin nicht. Sie beschreibt es eher als eine Art Hilflosigkeit, weil die meisten nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Dies will Stephanie aber nicht zu ihrem Problem machen. «Mir persönlich hat es von Anfang an geholfen, über unser Schicksal zu schreiben. Es hatte eine therapeutische Wirkung für mich.» Das Buch «Ich hätte mein Leben gegeben, um deines zu retten» sollte auch helfen, Fragen zu beantworten, die Malea vielleicht einmal stellen wird. Denn die älteste Tochter war beim Unfall mit dabei. Sie musste mit ansehen, wie ihre Mutter um das Leben ihrer Schwester kämpfte. Wie das Unfassbare schliesslich eintrat. Und sie traumatisiert zurückliess. Mit vielen Ängsten. Und wohl noch mehr Fragezeichen.
Plötzlich ist alles anders
Malea war zu diesem Zeitpunkt vier Jahre alt. Ein lebenslustiges, aber auch sensibles Mädchen, welches eine starke Bindung zu ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Alia hatte. Am Unfalltag im Oktober 2018 spielten die Beiden im Kinderzimmer. Eben noch hatte Stephanie ihre beiden Mädchen im Blickfeld, als sie plötzlich ein komisches Geräusch, gefolgt von einem panischen Schrei, aus dem Zimmer hörte. «Da wusste ich gleich, dass etwas ganz und gar nicht stimmte», erinnert sich Stephanie zurück. Sie fand ihre jüngere Tochter schliesslich um Luft ringend im Zimmer – weshalb, das war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Die Szenen, die folgten, haben sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Auch wenn sie wie ferngesteuert funktioniert habe. Reanimation. Notruf. Warten auf die Rettungskräfte. Dazwischen die Schreie ihrer Tochter Malea. Und das Gespräch mit dem Tod. Immer wieder. Schonungslos. «Das tönt vielleicht komisch. Aber ich kämpfte auch in mir drin, sagte ihm: Nein, du holst meine Tochter nicht. Sie wird leben, nicht sterben.»
Zwölf lange Minuten reanimierte Stephanie ihre Tochter. Minuten, die ihr wie Tage vorkamen. Vergebens. Alia war tot. «Zu diesem Zeitpunkt habe ich das jedoch nicht so wahrgenommen», erinnert sich Stephanie. «Als die Rega eintraf, war für mich klar, dass ich in den Heli steigen und meine Tochter begleiten würde.» Doch daraus wurde nichts. Der Notarzt konnte nach einer Stunde Reanimation nur noch den Tod von Alia feststellen. Was dann folgte, das hat Stephanie nur noch verschwommen in Erinnerung. Die nächsten Wochen und Monate sind in einen tiefen Nebel getaucht. Eine Art Schutzmechanismus des Körpers, wie ihr ihre Therapeutin später erklären wird. «Denn ansonsten wäre ein Mensch wohl gar nicht fähig, damit fertig zu werden.»
Tochter gibt Halt
Unheimlich starke Worte von einer Frau, die von jetzt auf gleich ihre Tochter gehen lassen musste. Wie wird man damit fertig? Wie schafft man es, nicht zu verzweifeln? Irgendwie weiter zu machen? Schliesslich ist da noch ihre andere Tochter, welche ihre Mutter braucht – mehr denn je. «Genau sie war der Grund, warum wir es geschafft haben», fasst es Stephanie zusammen. «Wir waren es Malea schuldig, unseren Alltag wieder aufzunehmen, weiterzumachen, ihr Halt zu geben.» Halt geben, in einer Zeit, in welcher alles wie durch einen Orkan durcheinandergewirbelt wird. Kein Blatt mehr auf dem anderen bleibt. Und nichts mehr so ist, wie es einmal war. Wohl auch deshalb, weil Stephanie von Schulgefühlen heimgesucht wird. Ihre Mädchen standen unter ihrer Aufsicht – was lief falsch? Und weshalb stirbt ein bis dahin kerngesundes Mädchen innerhalb weniger Minuten?
Der Grund brachte schliesslich eine Autopsie ans Tageslicht: Alia verschluckte einen Ballon. «Bis heute ist nicht klar, wie sie an ihn herangekommen ist», sagt Stephanie. Es war eine Angewohnheit von Alia, sich die Sachen in den Mund zu stecken. Eine Angewohnheit aber auch, die wohl fast jedes Kleinkind eine Zeit lang durchmacht. «Dass Alia durch einen Ballon erstickt ist, macht mir noch heute zu schaffen», sagt Stephanie. Die Schuldgefühle seien immer noch da, auch wenn sie als Mutter keine Schuld trifft. Wie oft gerät man als Eltern in eine Situation, in welcher man im Anschluss aufatmen kann und denkt: «Das hätte auch anders ausgehen können». Wie schnell reisst sich ein Kind los, rennt über die Strasse, fällt vom Baum, steckt sich etwas in den Mund – und es passiert nichts Schlimmeres. Das Kind kann noch so behütet sein, vor allem beschützen kann es niemand. Worte, die Stephanie in der Theorie zwar versteht. «Es zu begreifen und zu akzeptieren, fällt mir immer noch schwer», so Stephanie. Ihr selbst zu verzeihen, wo es eigentlich nichts zu verzeihen gibt. Wenn der härteste Richter man selber ist. Aber keine Strafe der Welt hart genug erscheint.
Die Zeit schätzen
Auch die Trauer ist geblieben, sie kommt, geht ein bisschen – aber ganz weg ist sie nie. Sie verändert sich, klar, wie eine Wunde, die irgendwann nicht mehr ganz so stechend schmerzt, wenn man hineinfasst. Aber die Narben bleiben. Gedanken, wie Alia heute ausgesehen hätte, welche Hobbys sie glücklich machen würden, welche Beziehung sie zu Malea hätte – all das bleibt Stephanie und ihrer Familie verwehrt. Doch möchte die Ostschweizerin nicht in der Trauer feststecken. «Stattdessen will ich dankbar für die Zeit sein, die wir mit Alia hatten. Es ist wundervoll, dass genau ich ihr Mami sein durfte.» Der Unfall hat die ganze Familie geprägt. Man nehme sich bewusster Auszeiten vom manchmal stressigen Alltag, halte inne, geniesse die Momente mit den Kindern. Weil sie einfach nicht selbstverständlich sind, und es bereits morgen vorbei sein könnte.
Deshalb haben sich Stephanie und Urs auch bewusst für ein weiteres Kind entschieden. Kiana kam zwei Jahre nach dem Unfalltod ihrer grossen Schwester auf die Welt – und ist heute ihr Ebenbild. «Am Anfang der Schwangerschaft hatte ich grosse Mühe, es anzunehmen, dass nun ein weiteres Kind zu uns stossen wird. Auch wenn wir uns das so gewünscht hatten.» Denn eigentlich war da bloss der einzig grosse Wunsch: Dass Alia wieder zurück kommt. Doch mit der Geburt änderten sich die Gefühle, Kiana war keine zweite Alia, und das war gut so. «Heute ist sie fast zwei und gleicht ihrer Schwester sehr. Das ist aber auch schön – nicht, weil sie Alia ersetzen muss, sondern weil sie uns wieder erfüllt. Mit ihrer eigenen Art.» Und wohl auch, um die Erinnerungen an Alia lebendig zu behalten. Denn manchmal werde Malea traurig, wenn sie zu ihrer Mutter sagt: «Mami, ich weiss nicht mehr, wie Alias Stimme geklungen hat.» Deshalb ist es für Stephanie umso wichtiger, dass Alia einen festen Platz in der Familie hat – und dies auch so bleibt. Ihr Geburtstag gefeiert wird. Über sie gesprochen wird. Und wenn Kiana eines Tages kommen sollte, und fragt, wie ihre Schwester gewesen ist, antworten kann: «Schau einfach in den Spiegel, dann weisst du’s!»
Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
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