Das Schweizer Nationalkader in Rhythmischer Gymnastik wurde vor wenigen Wochen aufgelöst. Das hat auch Auswirkungen auf die regionale Turnszene. Denn die Athletinnen sind plötzlich nirgends mehr gefragt. Und dem Nachwuchs fehlt jede Perspektive – auf Jahre hinaus.
Rhythmische Gymnastik ist kein Publikumsrenner, obwohl die Turnerinnen und Turner Höchstleistungen erbringen. Wenn Medien doch darüber berichten, dann meist nicht über den Sport an sich, sondern über negative Begleiterscheinungen. Im Juni 2020 wurden Schilderungen von ehemaligen Turnerinnen des Nationalkaders bekannt, in denen diese von psychischer Gewalt durch Trainer berichteten. Das hat im Schweizerischen Turnverband (STV) für einige Aufregung gesorgt – und zur Entlassung der beiden Cheftrainerinnen des Nationalkaders.
Dabei ist es aber nicht geblieben. Anfang Juni 2021 wurde bekannt, dass das Nationalkader nicht mehr weitergeführt wird. Den Entscheid fällte der Zentralvorstand des STV. Gemäss Beteiligten habe vorab keine Absprache mit Fachkundigen der Rhythmischen Gymnastik stattgefunden.
Zurück bleiben fünf enttäuschte Athletinnen, die jahrelang Spitzensport getrieben und dafür Woche für Woche bis zu 30 Stunden trainiert haben. Ihnen wurde die Möglichkeit genommen, ihr Können international an Wettkämpfen zu präsentieren.
Zu ihnen gehört beispielsweise die Zürcherin Noemi Schilling, die in ihrer Laufbahn auch ein Jahr lang im Regionalen Leistungszentrum Ostschweiz trainiert hat. Seit den Ereignissen im letzten Sommer ist an ihrer aktuellen Trainingsstätte in Magglingen kein Stein auf dem anderen geblieben. Nach der Entlassung der Trainerinnen habe man sie und die anderen in die Sommerferien geschickt mit dem Versprechen, danach werde man eine neue Trainingsleitung haben. Was nicht der Fall war. Als Übergangslösung bis Dezember 2020 sei eine Trainerin vom Regionalen Leistungszentrum Biel gekommen, die definitive Lösung wurde auf Januar 2021 versprochen. Wieder geschah nichts. Was wohl daran lag, dass es im Turnverband zu einem Abgang kam und niemand mehr verantwortlich war für die Trainersuche.
Aufgrund einiger Verletzungen wurde im Mai kommuniziert, dass das Nationalkader nicht zur Europameisterschaft im Juni antreten würde. Gleichzeitig wurde auch die Teilnahme für die WM im Oktober bereits abgesagt. «Wir fanden diese frühe Entscheidung damals seltsam», erinnert sich Noemi Schilling, «und haben das Gespräch mit dem Verband gesucht.» Dieser habe an der Entscheidung festgehalten, gleichzeitig aber versichert, das Nationalkader werde mindestens bis Ende 2022 als Gruppe weiterbestehen.
Doch auch das war nicht der Fall. Auf Anfang Juni wurde das Nationalkader zu einer Information eingeladen – und die Athletinnen waren überzeugt, dann würde die neue Trainerleitung vorgestellt. Stattdessen eröffnete man ihnen, dass die Gruppe aufgelöst werde. Die offizielle Begründung: Nach zwei Rücktritten bestand das nationale Kader nur noch aus fünf Turnerinnen. Der Druck auf dieses kleine Team sei zu gross. «Wir wussten aber, dass aus den regionalen Leistungszentren zwei bis drei Turnerinnen interessiert gewesen wären, ins Nationalkader zu kommen», so Noemi Schilling.
Die aktuelle Situation: In der Rhythmischen Gymnastik in der Schweiz bleibt Athletinnen nur noch die nationale Bühne, der Weg zu internationalen Wettkämpfen ist faktisch versperrt. Die Schweiz hat in der Vergangenheit in der Gruppe ansehnliche Resultate erzielt, Einzelturnerinnen sind aber so gut wie chancenlos. Denn grosse Nationen schicken ganze Delegationen von einzelnen Athletinnen.
Die Situation dürfte auf Jahre hinaus so bleiben. Der Turnverband habe signalisiert, der Neuaufbau eines Nationalkaders werde zwei «Olympiazyklen» beanspruchen, also mindestens acht Jahre. Schilling: «Damit ist der Traum einer internationalen Karriere für viele Jahrgänge geplatzt.»
Der STV verband die Auflösung des Nationalkaders mit der Ansage, man wolle die Nachwuchsförderung verstärken und damit die Basis für den Sport vergrössern. Die Frage ist, ob das gelingt, wenn Einsteiger wissen, dass sie auf Jahre hinaus keine Möglichkeit haben, international aktiv zu sein. Welcher Schweizer Knabe würde noch zu den Fussballschuhen greifen, wenn es keine Schweizer Nationalmannschaft mehr gäbe, die sein grosses Ziel ist?
Unter die Räder kommen nun indirekt auch die Regionalen Leistungszentren. Zum Beispiel das in der Ostschweiz. Dort trainieren 15 Mädchen und junge Frauen, die grössten Talente aus den diversen lokalen und regionalen Vereinen. «Ziel ist es, den Sprung in die nationalen Kader zu schaffen und somit eines Tages die Schweiz an internationalen Wettkämpfen sowie Europa- und Weltmeisterschaften zu vertreten», heisst es auf der Webseite des Leistungszentrums. Das ist nun vorbei. Besonders unschön ist das, weil zwei der Ostschweizer Athletinnen zum erweiterten Nationalkader gehört haben.
Und der weitere Niedergang scheint unaufhaltsam. Die Rhythmische Gymnastik gehörte zu den Sportarten, die unter dem Stichwort «Sport- und Kompetenzzentrum» in der neuen Sportanlage im Gründenmoos ideale Trainingsbedingungen vorfinden sollten. Inzwischen gibt es Gerüchte darüber, dass die Turnerinnen wieder aus dem Projekt ausgeladen werden sollen. Man habe ihnen in persönlichen Gesprächen vermittelt, dass es zu nichts führen würde, Rhythmische Gymnastik zu forcieren, wenn es kein Nationalkader mehr gebe.
Vor wenigen Wochen wurde zudem bekannt, dass sich der Schweizerische Turnverband nicht wie geplant am Bau neuer Multisporthallen in Biel beteiligen werde. Auch dort war eine Trainingshalle für Rhythmische Gymnastik geplant. Als Begründung hiess es, man sei gerade an einer strategischen Neuausrichtung inklusive Umstrukturierungen in dieser Sportart. . Für diese fehlt aber mit dem aufgelösten Nationalkader nun ein wichtiges Fundament: die Motivation für die jungen Sportlerinnen.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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