logo

Volles Vertrauen im blinden Temporausch

«Elf eins zwei zehn» und Marc Bleiker weiss in welche Richtung er seine Skis lenken muss

«Ich werde an Olympia mitfahren», mit diesem Gedanken stellte der sehbeeinträchtigte Skifahrer Marc Bleiker sein Leben auf den Kopf. Die Ostschweiz publiziert die Reportage der vier Herisauer Berufsschüler Derya Ayaz, Elias Weil, Simon Scopic und Paolo Tolino.

Die Ostschweiz am 10. Juni 2023

Heute fährt Marc seit vier Jahren im Schweizer Nachwuchskader der beeinträchtigten Skifahrer. Sieben bis dreizehn Mal in der Woche trainiert er in der Sportlerschule Teufen mit seinen Trainern und Physiotherapeuten. Trotzdem sei er kein Profisportler. «Profisportler ist man nur, wenn man von dem Sport leben kann. Ich bin ein Leistungssportler», sagt Marc.

Vom Hobby zum Spitzensportler

Seit seiner Geburt leidet Marc an einer Sehbehinderung, die ihn aber nicht aufhält, seiner Leidenschaft, dem Skifahren, nachzugehen. Er ist mit grauem Star geboren, der operiert wurde. Das führte zu grünem Star (erhöhter Augeninnendruck), der seinen Sehnerv belastet. «Ich werde immer weniger sehen und irgendwann ganz erblinden. Momentan sehe ich auf dem linken Auge 5 und auf dem rechten 1 Prozent.» Mit zwei Jahren steht Marc das erste Mal, vor dem Haus seiner Eltern, auf den Ski. Anfänglich fahren Mutter oder Vater voraus und unterstützen ihn. Als es dann vom Breitensport in den Nachwuchskader ging, übernahm sein Vater auch die Rolle als Guide. Nach einem Jahr brauchte es einen anderen Guide, da es immer zeitintensiver und professioneller wurde. Mit einer ehemaligen FIS-Skifahrerin fand er für zwei Jahre einen sehr guten Guide. Heute fährt Marc mit einem Guide aus der Innerschweiz. «Es ist ein komplett anderes Gefühl, wenn man mit der Familie unterwegs ist, als wenn man Rennen fährt und durch Tore fahren muss», sagt er.

Anfänglich finanziert sich Marc alles aus eigener Tasche. Durch intensive Sponsorensuche kann er heute seine Ausgaben durch die Sponsorengelder decken. Seine Skiausrüstung erhält er von seinem Ausrüstungspartner Rossignol. Verdienen tut Marc nichts. Nebst seinen vielen Trainings arbeitet er 60 Prozent als Sachbearbeiter beim Kanton in St. Gallen. «Mein einziges Einkommen bekomme ich durch die Arbeit beim Kanton. Ich versuche, die restlichen 40 Prozent in naher Zukunft durch die Sponsoren abzudecken», erwidert Marc. Sein Guide arbeite nebenbei voll und nehme Ferientage, um ihn auf der Piste bei Rennwochenenden zu unterstützen. All das unter einen Hut zu kriegen, sei nur durch eine gute Planung möglich. Die Arbeitstage sind klar geregelt und die Ferien gehen grösstenteils für den Sport drauf. «Ich erhalte jede Woche von meinem Konditionstrainer einen Plan, auf den ich mich die kommenden Tage fokussiere», sagt Marc.

Die Sportlerschule Teufen stellt ihm Geräte und Räume zur Verfügung. An Trainingstagen auf den Skiern erhält er Unterstützung vom Verband und seinen Trainern, welche ihm die Piste reservieren, abstecken und nach dem Training Feedbacks geben. «Die Unterkunft an Trainingstagen oder an Rennwochenenden muss ich aus eigener Tasche bezahlen, der Verband kümmert sich um die Reservation und das Abstecken der Piste.»

«Bei dieser Geschwindigkeit kann ich nur meinem Guide vertrauen.»

«Am Renntag stehe ich immer eine halbe Stunde vor dem Frühstück auf. Danach wärme ich mich mit Kraftübungen und Dehnen auf. Eine Stunde vor der Abfahrt wird kurz gegessen und danach geht es auf die Piste zum Einfahren. Nach dem Einfahren gehen wir zurück an die Wärme. Dieses Szenario wiederholen wir erneut, bevor wir schlussendlich an den Start gehen.» Die Kleider werden abgezogen und Marc steht nur noch mit dem Renndress im Starthaus. Nochmals ein kurzer Funkcheck und schon geht es los. Mit einem beachtlichen Tempo fährt Marc mit seinem Guide die Strecke hinunter. Er ist mit einer Weste ausgestattet, welche signalisiert, dass er sehbehindert ist. Kommuniziert wird per Funk, der in seinem Helm befestigt ist. «Bei einer solchen Geschwindigkeit sehe ich die Tore nicht und ich merke auch nicht, wann es nach unten geht. Das braucht im ersten Moment Überwindung und ich muss auf die Funksprüche von meinem Guide vertrauen», sagt Marc auf die Frage, ob er die Tore ein bisschen sehen kann.

Damit Marc weiss, in welche Richtung er fahren muss, benutzen sie eine spezielle Kommunikation. «Mein Guide sagt mir «elf eins zwei zehn» für die Richtungsangabe und wenn ich die Kurve ansetzen muss «und Hopp eins». Bei «und» weiss Marc, er muss auslösen, bei «hopp» ist die Einleitung und «eins» wird die Kurve gefahren. Er fährt momentan Riesenslalom und Super-G. «Am meisten Spass machen mir die Speed-Disziplinen, da es aufgrund der Geschwindigkeit ein gutes Timing Gefühl mit dem Guide braucht.»

Das Punktesystem ist gleich aufgebaut wie bei den Profis. «Ich fahre zurzeit auf der Stufe FIS. Ich habe wegen fünf Punkten den Aufstieg in den Europacup verpasst. Nach dem Europacup gibt es dann noch den Weltcup, das ist die höchste Stufe, auf der man fahren kann.» Diese Saison verfolgt Marc das Ziel, in den Europacup aufzusteigen.

«Das erste Mal ganz oben auf dem Podest zu stehen, war ein unglaubliches Gefühl.»

Seinen bisher grössten Erfolg feierte Marc in Leogang, als er sein erstes FIS-Rennen gewonnen hat. «Es waren die schwierigsten Bedingungen, die ich je hatte und als es dann für den Sieg reichte, war es doppelt so schön. Es ist immer wieder ein grossartiges Gefühl, auf dem Podest zu stehen und zu wissen, dass sich das harte Training auszahlt und man es nicht einfach so macht.»

«Ich werde an den Olympischen Spielen 2026 in Cortina mitfahren.»

Sein grosses Ziel, an Olympia teilzunehmen, verfolgt Marc jeden Tag. Er trainiert so hart wie möglich und verbessert sich jeden Tag, damit er eines Tages seinen Traum, 2026 in Cortina am Start zu stehen, verwirklichen kann. «Aufgeben ist für mich keine Option. Ich habe dieses Ziel vor meinen Augen und werde hoffentlich nächste Saison mit dem Aufstieg in den Europacup einen weiteren Schritt näher an meinem Traum sein.»

Einige Highlights

Uzwilerin mit begrenzter Lebenserwartung

Das Schicksal von Beatrice Weiss: «Ohne Selbstschutz kann die Menschheit richtig grässlich sein»

am 11. Mär 2024
Im Gespräch mit Martina Hingis

«…und das als Frau. Und man verdient auch noch Geld damit»

am 19. Jun 2022
Das grosse Gespräch

Bauernpräsident Ritter: «Es gibt sicher auch schöne Journalisten»

am 15. Jun 2024
Eine Analyse zur aktuellen Lage

Die Schweiz am Abgrund? Wie steigende Fixkosten das Haushaltbudget durcheinanderwirbeln

am 04. Apr 2024
DG: DG: Politik

«Die» Wirtschaft gibt es nicht

am 03. Sep 2024
Gastkommentar

Kein Asyl- und Bleiberecht für Kriminelle: Null-Toleranz-Strategie zur Sicherheit der Schweiz

am 18. Jul 2024
Gastkommentar

Falsche Berechnungen zu den AHV-Finanzen: Soll die Abstimmung zum Frauenrentenalter wiederholt werden?

am 15. Aug 2024
Gastkommentar

Grenze schützen – illegale Migration verhindern

am 17. Jul 2024
Sensibilisierung ja, aber…

Nach Entführungsversuchen in der Ostschweiz: Wie Facebook und Eltern die Polizeiarbeit erschweren können

am 05. Jul 2024
Pitbull vs. Malteser

Nach dem tödlichen Übergriff auf einen Pitbull in St.Gallen: Welche Folgen hat die Selbstjustiz?

am 26. Jun 2024
Politik mit Tarnkappe

Sie wollen die angebliche Unterwanderung der Gesellschaft in der Ostschweiz verhindern

am 24. Jun 2024
Paralympische Spiele in Paris Ende August

Para-Rollstuhlfahrerin Catherine Debrunner sagt: «Für ein reiches Land hinkt die Schweiz in vielen Bereichen noch weit hinterher»

am 24. Jun 2024
Politik extrem

Paradox: Mit Gewaltrhetorik für eine humanere Gesellschaft

am 10. Jun 2024
Das grosse Bundesratsinterview zur Schuldenbremse

«Rechtswidrig und teuer»: Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnt Parlament vor Verfassungsbruch

am 27. Mai 2024
Eindrucksvolle Ausbildung

Der Gossauer Nicola Damann würde als Gardist für den Papst sein Leben riskieren: «Unser Heiliger Vater schätzt unsere Arbeit sehr»

am 24. Mai 2024
Zahlen am Beispiel Thurgau

Asylchaos im Durchschnittskanton

am 29. Apr 2024
Interview mit dem St.Galler SP-Regierungsrat

Fredy Fässler: «Ja, ich trage einige Geheimnisse mit mir herum»

am 01. Mai 2024
Nach frühem Rücktritt: Wird man zur «lame duck»?

Exklusivinterview mit Regierungsrat Kölliker: «Der Krebs hat mir aufgezeigt, dass die Situation nicht gesund ist»

am 29. Feb 2024
Die Säntis-Vermarktung

Jakob Gülünay: Weshalb die Ostschweiz mehr zusammenarbeiten sollte und ob dereinst Massen von Chinesen auf dem Säntis sind

am 20. Apr 2024
Neues Buch «Nichts gegen eine Million»

Die Ostschweizerin ist einem perfiden Online-Betrug zum Opfer gefallen – und verlor dabei fast eine Million Franken

am 08. Apr 2024
Gastkommentar

Weltweite Zunahme der Christenverfolgung

am 29. Mär 2024
Aktionswoche bis 17. März

Michel Sutter war abhängig und kriminell: «Ich wollte ein netter Einbrecher sein und klaute nie aus Privathäusern»

am 12. Mär 2024
Teuerung und Armut

Familienvater in Geldnot: «Wir können einige Tage fasten, doch die Angst vor offenen Rechnungen ist am schlimmsten»

am 24. Feb 2024
Naomi Eigenmann

Sexueller Missbrauch: Wie diese Rheintalerin ihr Erlebtes verarbeitet und anderen Opfern helfen will

am 02. Dez 2023
Best of 2023 | Meine Person des Jahres

Die heilige Franziska?

am 26. Dez 2023
Treffen mit Publizist Konrad Hummler

«Das Verschwinden des ‘Nebelspalters’ wäre für einige Journalisten das Schönste, was passieren könnte»

am 14. Sep 2023
Neurofeedback-Therapeutin Anja Hussong

«Eine Hirnhälfte in den Händen zu halten, ist ein sehr besonderes Gefühl»

am 03. Nov 2023
Die 20-jährige Alina Granwehr

Die Spitze im Visier - Wird diese Tennisspielerin dereinst so erfolgreich wie Martina Hingis?

am 05. Okt 2023
Podcast mit Stephanie Stadelmann

«Es ging lange, bis ich das Lachen wieder gefunden habe»

am 22. Dez 2022
Playboy-Model Salomé Lüthy

«Mein Freund steht zu 100% hinter mir»

am 09. Nov 2022
Neue Formen des Zusammenlebens

Architektin Regula Geisser: «Der Mensch wäre eigentlich für Mehrfamilienhäuser geschaffen»

am 01. Jan 2024
Podcast mit Marco Schwinger

Der Kampf zurück ins Leben

am 14. Nov 2022
Hanspeter Krüsi im Podcast

«In meinem Beruf gibt es leider nicht viele freudige Ereignisse»

am 12. Okt 2022
Stölzle /  Brányik
Autor/in
Die Ostschweiz

«Die Ostschweiz» ist die grösste unabhängige Meinungsplattform der Kantone SG, TG, AR und AI mit monatlich rund 300'000 Leserinnen und Lesern. Die Publikation ging im April 2018 online und ist im Besitz der Ostschweizer Medien AG, ein Tochterunternehmen der Galledia Regionalmedien.

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.