«Bei der Personalrekrutierung hat bezüglich Fachkräftemangel bereits ein eigentlicher Wettbewerb eingesetzt, insbesondere auch für gut ausgebildete Frauen», sagt Daniel Wessner, Leiter Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Thurgau. Die Situation ist dennoch alles andere als gut.
Verschiedene Branchen klagen über einen Fachkräftemangel. Wie sieht diesbezüglich ganz allgemein die Situation im Kanton Thurgau aus?
Der Fachkräftemangel ist eine gesamtschweizerische Herausforderung, die auch den Kanton Thurgau betrifft. Für Arbeitnehmende sind das in vielen Branchen goldene Zeiten.
Welche Branchen sind besonders von der Problematik betroffen?
Grundsätzlich suchen alle Branchen intensiv nach Mitarbeitenden. Es geht nicht mehr nur um einen eigentlichen Fachkräftemangel. Verschiedene Unternehmen benötigen auch dringend zusätzliche Hilfsarbeiterinnen und Hilfsarbeiter. Besonders betroffen sind nebst der Gastro- und Baubranche die Bereiche Informatik, Ingenieurwesen und Medizin. Gefordert bei der Personalrekrutierung sind folglich sowohl Handwerks- als auch Industriebetriebe. Offensichtlich ist zudem der Mangel an Pflegepersonal und Lehrkräften.
Worauf ist der Mangel zurückzuführen? Was sind die wesentlichen Gründe?
Der Schweizer Wirtschaft und den Unternehmen geht es gut. Das ist positiv zu werten. Dass sich die Wirtschaft so schnell erholt hat von der Pandemie-Krise und sich bereits wieder ein Fachkräftemangel abzeichnet, ist an und für sich beachtlich. Zum einen spüren wir den markanten Rückgang der qualifizierten Fachkräfte aus dem Ausland, insbesondere aus Deutschland. Zum anderen ist die Demographie ein relevanter Faktor für fehlende Arbeitskräfte.
Mit welchen Massnahmen kann das Problem angegangen werden?
Bei der Personalrekrutierung hat bezüglich Fachkräftemangel bereits ein eigentlicher Wettbewerb eingesetzt, insbesondere auch für gut ausgebildete Frauen in Führungsfunktionen. Unternehmen locken mit einem 4-Tage-Angebot zum gleichen Lohn, flexible Arbeitszeit- und Arbeitsortbedingungen, längere Ferien, Weiterbildungsmöglichkeiten oder betriebseigene Kinderbetreuung. Meiner Ansicht nach ist es aber nicht nur wichtig, neues Personal zu gewinnen, sondern auch den bisherigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Sorge zu tragen. Nebst der Wertschätzung braucht es eine offene Unternehmenskultur. Weiterbildungen sollen nicht nur ermöglicht, sondern gelebt werden. Statt Leute zu entlassen, weil sie nicht mehr exakt dem Anforderungsprofil entsprechen, sollte man sie frühzeitig für eine Umschulung oder Weiterbildung begeistern. So besteht die Möglichkeit, dass wertvolle 60-plus-Mitarbeitende selbst nach der eigentlichen Pensionierung zur Verfügung stehen. Und schliesslich – und das ist alles andere als einfach – braucht es Lösungen mit der EU, damit die Personenfreizügigkeit statt Ängste Sicherheit vermittelt.
Erhalten nun also ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wieder einen deutlich höheren Stellenwert in der Wirtschaft?
Ja. Wenn sich die 50-plus-Generation stetig weiterbildet und "am Ball" bleibt, wird ihr Stellenwert und ihre Attraktivität auf dem Arbeitsmarkt deutlich zunehmen.
Zudem erhoffe ich mir politisch endlich eine Reform der beruflichen Vorsorge, damit ältere Mitarbeitende nicht mehr aufgrund der Pensionskassenbeiträge schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.
Auf welche Schwierigkeiten steuern die einzelnen Branchen zu, sollte es zu keiner Trendwende kommen?
Das Szenario ist offensichtlich: Ein massiver Fachkräftemangel bremst die Konjunktur.
Auf dem Spiel stehen auch die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit. Verliert die Schweiz über kurz oder lang an Attraktivität?
Davon gehe ich nicht aus. Die Schweiz – und damit auch der Kanton Thurgau - wird auch weiterhin als attraktiver, sicherer und innovativer Wirtschaftsplatz gelten. Dennoch ist es wichtig, den guten Rahmenbedingungen Sorge zu tragen.
Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».
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