Als junge Frau, politisch interessiert, sozial und nachhaltig engagiert, bin ich dabei, mich selbst zu finden. Mich und meine Meinung zu formen und nach dem zu streben, was ich gutheisse.
Als Studierende der Internationalen Beziehungen bin ich gezwungen, mich politisch zu äussern, zu positionieren und mich auf dem Spektrum zwischen links und rechts festzulegen. Aber das ist manchmal gar nicht so einfach. Und dies hat vor allem mit dem Umfeld zu tun, in dem ich mich jeweils bewege.
Aufgewachsen bin ich in Rostock, einer Grossstadt in Deutschland. Ich wurde eher links sozialisiert, so wie ich das einschätze, hätte meine Mutter wohl die Grünen gewählt. Doch damals habe ich sowieso nicht viel von Politik verstanden, obwohl ich schon als Kind sehr gern diskutierte.
Mit 14 Jahren kam ich dann in die Schweiz, in den Thurgau, aufs Land. Mit meiner Pflegefamilie zog ich in eine Kleinstadt. Jeder kannte hier jeden, und vor allem uns, denn wir waren die Pastorenfamilie der Freikirche. Ich wurde auf der Strasse erkannt und gegrüsst, viele kannten meinen Namen.
Und doch kannte ich selbst noch nicht meine Identität. Politisch, meine ich.
Langsam fing ich an, mich für das zu interessieren, von dem die Zeitungen berichteten und über was wir auch am Abendbrottisch viel zu diskutieren hatten. Ich fragte mich, wieso auf dieser Welt so viel Ungerechtigkeit herrscht. Wieso manche Menschen arm sein mussten, wo andere doch so reich waren. Weshalb ich, die Deutsche, von den meisten Schweizern nicht als Ausländerin gesehen wurde, obwohl ich anfangs auch kein Schweizerdeutsch verstand und sprach. Und wieso ich einfach zusehen konnte, wie andere Ausländer diskriminiert wurden.
Ich stellte mir kindliche Fragen über absolut grossgewachsene Probleme.
In der Kantonsschule lernte ich dann das politische System der Schweiz kennen, mir wurde der Unterschied zwischen links und rechts erklärt, ich besuchte das Schweizer Bundeshaus. Mein Interesse war geweckt, mein Feuer entflammt. Ich fing an, mich mehr und mehr mit Politik zu befassen, leitete meine erste Podiums-Diskussion und schrieb meine Matura-Arbeit über das Black Lives Matter Movement und Donald Trump.
Ich wusste: Ich will, nein –Ich muss!, etwas Politisches studieren.
Und dann war es so weit: Ich zog zurück nach Deutschland, um mein Studium in den Internationalen Beziehungen zu beginnen. Hineingeworfen in den politischen Gegensatz des ländlichen Thurgaus: an eine deutsche Universität. Hier, vor allem in meinem Studiengang, ist Politik nicht nur etwas, über das man redet.
Hier wird diskutiert, analysiert, debattiert und vor allem auch determiniert, wer sich wo positioniert. Die CDU ist vielen zu rechts, und noch rechter davon ist es keinem mehr recht. Es wird mit Wörtern wie Faschismus und Patriarchat und Anarchie nur so um sich geworfen. Klar, wir wollen ja auch alle elitär klingen, wir studieren an der Universität!
Und ich stehe mitten in den Diskussionen und denke an die schweizerische Kleinstadt, in der ich meine pubertierenden, prägenden Jahre verbracht habe. In der man SVP wählt und in welcher an Kommunismus nicht einmal ein Sekündchen lang Gedanken verschwendet werden.
Klar, ich fand schon immer, dass die Schweiz meiner politischen Meinung nach zu politisch rechts eingestellt ist, zumindest dort, wo ich wohnte. Ich stimme auch meinen Kommilitonen und Kommilitoninnen zu, dass die AfD eine abstossende Partei ist und dass die CDU manche Politiken betreibt, die nicht immer so mittig sind.
Aber ich will auch nicht Menschen als Faschisten bezeichnen, die es nicht unbedingt verdient haben. Und Kommunismus ist meiner Meinung nach fast nicht umzusetzen, wo die Versuche doch bis jetzt jedes Mal in Diktatur endeten.Ideologie-getrieben-Sein ist auch nicht immer ideal.
Wie finde ich in diesem gedanklichen Chaos meine Position? Wo ist links, ab wann wird es rechts? Und gibt es überhaupt eine Mitte?
Heutzutage ist die Welt polarisiert, viele wählen extrem. Und innerhalb dieses Extremismus werden Debatten über Politiken und Aussagen getroffen, die eigentliche Politik wird in den Hintergrund gedrängt. Wir kritisieren und kategorisieren. Die anderen sind schuld, die anderen das Problem. Die Rechten hassen die Linken und vice versa. Worte werden aus dem Zusammenhang gerissen, Politiker und Politikerinnen werden schnellstmöglich in Schubladen verpackt, in die sie vielleicht gar nicht reingehören. Nicht nur die Politik ist extrem, sondern auch die Wucht, mit der die Leute auf Grund ihrer Aussagen sofort in eine vorherbestimmte Ecke gedrängt werden.
Die eigentlich mittigen Parteien versuchen, sich zu positionieren, einen Mittelweg zu finden, den Spalt zwischen den Extremen zu schliessen. Doch das gelingt nur bedingt, immer wieder rutschen sie nach rechts oder links ab. Der Weg der Mitte ist gespannt, fadendünn und kaum geradewegs bestreitbar.
Und was ist mit mir?
Wenn ich die Schweiz besuche, bin ich vielen zu links, zu utopisch, zu idealistisch. Und mein Umfeld in Erfurt sieht mich als konservativ, naiv, nicht links genug.
Wo bin ich also auf dem politischen Spektrum? Und wo will ich sein?
Die Verwirrung in meinem Kopf und über meine politische Identität sagt mir nur eines: Ich weiss nicht, wo ich mich platzieren soll. Aber ich weiss, wo ich nicht hinwill: hin zu den Extremen.
Lea Tuttlies (*2002) aus Amriswil studiert in Erfurt Internationale Beziehungen.
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