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Zeyer zur Zeit

Fahren mit Blick in den Rückspiegel

Forscher warnen mal wieder. Dabei wird gebannt auf die Reproduktionszahl (R) gestarrt. Ein Blick in die Vergangenheit.

«Die Ostschweiz» Archiv am 30. April 2020

Es fehlen bis heute belastbare Zahlen über die Pandemie. Wie viele Menschen sind in der Schweiz insgesamt infiziert, wie viele immunisiert? Wir wissen es bis heute nicht. Nun ist das Gezerre um die Aufhebung der drakonischen Massnahmen in vollem Gange.

Dabei wird auf die Reproduktionszahl verwiesen. Endlich einmal ein verständliches Kriterium. Sie sagt aus, wie viele Menschen ein Infizierter im Schnitt ansteckt. Liegt sie zum Beispiel bei 2, dann bedeutet das eine schnelle Verdoppelung der Zahl der Infizierten, was schlecht ist. Liegt sie bei 1, bleibt die Zahl konstant. Unter 1 bedeutet, dass die Pandemie abklingt.

Klare Sache, könnte man meinen. Also ist es verständlich, dass Bundesrat und Behörden verkünden, dass die Entwicklung von R im Zusammenhang mit den Lockerungen der Quarantäne genau beobachtet werde. Steige R wieder an, müsse sofort über einen neuen Stopp nachgedacht werden. Zudem könnte eine «zweite Welle» drohen.

Bei dieser zweiten Welle im Sommer könnte es – mal wieder je nach Szenario – Millionen von Infizierten und Tausende von Toten geben. Sagen die Forscher, die auch schon Szenarien entwickelten, nach denen es bis zu 100'000 Tote hätte geben können.

Daran stimmt bei genauerer Betrachtung – nichts. Zunächst spiegelt die Zahl R, die meistens bis hinters Komma angegeben wird, eine Genauigkeit vor, die sie nicht hat. Denn sie gehört ins Feld der Stochastik, also der Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Sie wird also nicht mit mathematischer Exaktheit berechnet, sondern geschätzt. Und zwar mit einer hübsch komplizierten Formel:

Formel

Das ist nur ein Zwischenschritt bei der Schätzung von R. Aber das ist noch nicht alles bei diesem faulen Zahlenzauber. Bedingt durch die Inkubationszeit und den Meldeprozess gibt die «aktuelle» Zahl R immer nur den Stand von vor 7 Tagen an. Das wird schlicht unterschlagen, wenn zum Beispiel geraunt wird, dass möglicherweise im Zusammenhang mit einer Lockerung der Ladenöffnungen ein Anstieg von R zu verzeichnen sei.

Denn was seit vergangenem Montag passierte, ist noch gar nicht in R enthalten. Ist das wenigstens alles? Nein. Nach allen Untersuchungen befindet sich R schon lange im steilen Sinkflug. Die ETH geht von einem R von unter 0,8 aus, andere Forscher kommen sogar auf Werte bis 0,3 hinunter. Was doch bedeutet, dass die Pandemie am Verschwinden ist.

Nein, sagen da die Forscher, der Wert könne auch ganz schnell wieder steigen, im Fall. Und dann könne es eine zweite Welle im Juli geben, wenn man nicht furchtbar aufpasse. Was ist das für eine Logik? Es gab keine erste Welle mit bis zu 100'000 Toten. Die «aktuelle» Zahl R ist keine exakte Messung, sondern stellt eine mathematische Schätzung des Zustands vor einer Woche dar.

Aber weil es keine erste Riesenwelle gab, die Reproduktionsrate schon seit rund einem Monat unter 1 liegt, soll ja nicht zu schnell der Lockdown gelockert werden, sowieso drohe eine zweite Welle?

In Deutschland sagte die Naturwissenschaftlerin und Kanzlerin Angela Merkel, dass ein Ansteigen von R auf lediglich 1,2 oder 1,3 bedeute, dass in wenigen Wochen das deutsche Gesundheitssystem an seine Grenzen komme, die Anzahl von schwer Erkrankten nicht mehr bewältigen könne.

Das ist mathematisch zwar richtig. Nur: Da R eine Schätzung ist, kann man diese Zahl gar nicht so genau bestimmen. Es gibt immer einen Streubereich, eine Unschärfe. Und wenn zum Beispiel behauptet wird, weil vorgestern Restaurants wieder öffneten, sei gestern R merklich gestiegen, dann ist das ein doppelter Unfug. Wenn R gestern anstieg, widerspiegelt das eine Entwicklung von vor sieben Tagen. Und wenn sich R um 0,1 verändert hat, kann das die Realität widerspiegeln oder schlichtweg eine Messunschärfe bei der Schätzung.

Aber aufgrund solcher Messwerte soll die Geschwindigkeit der Aufhebung des Shutdowns in der Schweiz gesteuert werden. Das ist so, wie wenn ein Autofahrer lenkt, während er aber nicht nach vorne, sondern in den Rückspiegel schaut. Das ist eine beängstigende Vorstellung, nicht das Geraune von einer angeblich drohenden zweiten Welle.

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