Im Fall Carlos gibt es vor allem eines zu beurteilen: Die Experten an der Seitenlinie.
Zunächst: Nein, Kollege Huber hat zu dieser Kolumne nichts beigetragen. Oder beitragen dürfen. Als Berater des Zürcher Oberjugendstaatsanwalts wäre er einerseits befangen und untersteht andererseits dem Mandantengeheimnis.
Und damit sind wir schon mitten in der Problematik vieler Krisensituationen: Die Verantwortlichen sind oft genug aufgrund von rechtlichen Vorgaben zu Verschwiegenheit verpflichtet. Das gilt für Carlos ehemalige Betreuerin genauso (auch wenn sie diese Woche im CLUB beim Schweizer Fernsehen wohl mehr als rechtlich zulässig aus dem Nähkästchen geplaudert hat) wie für Staatsanwälte, Ermittlungsbehörden oder Gefängnisaufseher. Bei manchen sind die gesetzlichen Regeln etwas strikter, bei anderen sieht das Gesetz Ausnahmeregeln vor – Staatsanwälte beispielsweise dürfen unter gewissen Voraussetzungen laut Strafprozessordnung die Öffentlichkeit informieren.
Für uns als Krisenkommunikationsberater sind diese gesetzlichen Einschränkungen meist mühsam. Oft ist es nämlich nicht so, dass die Verantwortlichen sich verstecken und nicht kommunizieren wollen. Sie dürfen schlicht nicht. Wegen des Berufs-, Verfahrens- oder Amtsgeheimnis.
Besonders ärgerlich ist das, weil damit die selbsternannten Experten in die Lücke springen. In der Person einer Journalistin beispielsweise, die vom Justizvollzug «mehr Kreativität» verlangt im Umgang mit einem wie Carlos. Aber wie stellt sie sich das vor? Soll er ab jetzt für jeden Faustschlag, den er austeilt, eine Viertelstunde Fussmassage erhalten? – Natürlich schweigen sich die Experten in aller Regel darüber aus, wie es denn bitte konkret anders hätte gemacht werden müssen.
Oder sie denken ihre Argumente nicht zu Ende. Der Zürcher Ständerat und Strafrechtsprofessor Daniel Jositsch ist so einer. Selbst noch nie in der Verantwortung, gibt es kaum einen Straffall, zu dem er sich nicht als Experte äussert. Bei Carlos fand er es beschämend und unverhältnismässig, dass die Behörden den damals jugendlichen Täter nach dem Dokumentarfilm im SCHWEIZER FERNSEHEN aus Sicherheitsüberlegungen in eine geschlossene Anstalt verbrachten.
Ich habe mir angewöhnt, immer die Frage nach den Konsequenzen zu stellen, wenn die Entscheidungsträger anders entschieden hätten. Also zum Beispiel einmal anzunehmen, man hätte Carlos auf freiem Fuss gelassen, er wäre irgendwo da draussen provoziert worden, die Situation eskaliert und es hätte Schwerverletzte oder Tote gegeben?
Die Experten an der Seitenlinie wären auch dann bereitgestanden, um zu kommentieren, dass eben die Verantwortlichen versagt hatten. Weil doch klar war, dass man Carlos hätte vor der Welt und die Welt vor ihm schützen müssen.
Die schlimmsten in Sachen Expertitis kommen übrigens aus unserer eigenen Branche. Unvergessen beispielsweise der Kollege, der nach dem überraschenden Tod von Sergio Marchionne 2018 dem Unispital Zürich per Zeitung riet, in der Öffentlichkeit darzutun, «dass man abklären werde, inwiefern Ärzte für den Tod verantwortlich gemacht werden können.» - Allein, für einen Ärztefehler gab es damals und gibt es heute nicht den geringsten Hinweis.
Wie sagt man da: Keine Ahnung – aber immerhin eine Meinung.
Roger Huber (1964) und Patrick Senn (1969) sind ehemalige Ostschweizer Journalisten, die lange Jahre bei nationalen Medientiteln gearbeitet haben. Heute unterstützen Sie Organisationen und Führungskräfte in der Krisenkommunikation und sind Gründungsmitglieder des Verbandes für Krisenkommunikation vkk.
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