logo

Huber & Senn

Fall Carlos

Im Fall Carlos gibt es vor allem eines zu beurteilen: Die Experten an der Seitenlinie.

Huber & Senn am 14. November 2019

Zunächst: Nein, Kollege Huber hat zu dieser Kolumne nichts beigetragen. Oder beitragen dürfen. Als Berater des Zürcher Oberjugendstaatsanwalts wäre er einerseits befangen und untersteht andererseits dem Mandantengeheimnis.

Und damit sind wir schon mitten in der Problematik vieler Krisensituationen: Die Verantwortlichen sind oft genug aufgrund von rechtlichen Vorgaben zu Verschwiegenheit verpflichtet. Das gilt für Carlos ehemalige Betreuerin genauso (auch wenn sie diese Woche im CLUB beim Schweizer Fernsehen wohl mehr als rechtlich zulässig aus dem Nähkästchen geplaudert hat) wie für Staatsanwälte, Ermittlungsbehörden oder Gefängnisaufseher. Bei manchen sind die gesetzlichen Regeln etwas strikter, bei anderen sieht das Gesetz Ausnahmeregeln vor – Staatsanwälte beispielsweise dürfen unter gewissen Voraussetzungen laut Strafprozessordnung die Öffentlichkeit informieren.

Für uns als Krisenkommunikationsberater sind diese gesetzlichen Einschränkungen meist mühsam. Oft ist es nämlich nicht so, dass die Verantwortlichen sich verstecken und nicht kommunizieren wollen. Sie dürfen schlicht nicht. Wegen des Berufs-, Verfahrens- oder Amtsgeheimnis.

Besonders ärgerlich ist das, weil damit die selbsternannten Experten in die Lücke springen. In der Person einer Journalistin beispielsweise, die vom Justizvollzug «mehr Kreativität» verlangt im Umgang mit einem wie Carlos. Aber wie stellt sie sich das vor? Soll er ab jetzt für jeden Faustschlag, den er austeilt, eine Viertelstunde Fussmassage erhalten? – Natürlich schweigen sich die Experten in aller Regel darüber aus, wie es denn bitte konkret anders hätte gemacht werden müssen.

Oder sie denken ihre Argumente nicht zu Ende. Der Zürcher Ständerat und Strafrechtsprofessor Daniel Jositsch ist so einer. Selbst noch nie in der Verantwortung, gibt es kaum einen Straffall, zu dem er sich nicht als Experte äussert. Bei Carlos fand er es beschämend und unverhältnismässig, dass die Behörden den damals jugendlichen Täter nach dem Dokumentarfilm im SCHWEIZER FERNSEHEN aus Sicherheitsüberlegungen in eine geschlossene Anstalt verbrachten.

Ich habe mir angewöhnt, immer die Frage nach den Konsequenzen zu stellen, wenn die Entscheidungsträger anders entschieden hätten. Also zum Beispiel einmal anzunehmen, man hätte Carlos auf freiem Fuss gelassen, er wäre irgendwo da draussen provoziert worden, die Situation eskaliert und es hätte Schwerverletzte oder Tote gegeben?

Die Experten an der Seitenlinie wären auch dann bereitgestanden, um zu kommentieren, dass eben die Verantwortlichen versagt hatten. Weil doch klar war, dass man Carlos hätte vor der Welt und die Welt vor ihm schützen müssen.

Die schlimmsten in Sachen Expertitis kommen übrigens aus unserer eigenen Branche. Unvergessen beispielsweise der Kollege, der nach dem überraschenden Tod von Sergio Marchionne 2018 dem Unispital Zürich per Zeitung riet, in der Öffentlichkeit darzutun, «dass man abklären werde, inwiefern Ärzte für den Tod verantwortlich gemacht werden können.» - Allein, für einen Ärztefehler gab es damals und gibt es heute nicht den geringsten Hinweis.

Wie sagt man da: Keine Ahnung – aber immerhin eine Meinung.

Highlights

Autor Dani Egger

Schicksale im Zweiten Weltkrieg: Dieser Ostschweizer hat ihnen ein ganzes Buch gewidmet

am 17. Apr 2024
Rechtsextremismus

Nazi-Konzert im Toggenburg: Die organisierte Kriminalität mischte mit

am 13. Apr 2024
EGMR-Rüge für die Schweiz

«Klimaseniorinnen» spielen ein unehrliches Spiel

am 12. Apr 2024
Zweiter Wahlgang in St.Gallen

Angriff der SVP gescheitert: Bettina Surber (SP) und Christof Hartmann (SVP) ziehen in die St.Galler Regierung ein

am 14. Apr 2024
St.Galler Regierungsratswahlen

Bettina Surber liefert 98 Prozent und zeigt damit der SVP, wie es geht

am 14. Apr 2024
Schwierige Kindheit

Mutiger Blick zurück: Wie Peter Gross seine Vergangenheit in einem Buch verarbeitet und damit auf Missstände der IV aufmerksam machen möchte

am 18. Apr 2024
«Meister im Verdrängen»

Musiker Kuno Schedler: «Ich wollte eigentlich Chef der Brauerei Schützengarten werden»

am 12. Apr 2024
Die Schweiz am Abgrund?

SVP-Nationalrat Roland Rino Büchel: «Zunehmend schwierige Zeiten. Die Lösung? Weniger Staat!»

am 15. Apr 2024
Die Schweiz am Abgrund?

Mitte-Nationalrat Nicolo Paganini: «Wir haben immer mehr Stress für höchstens gleich viel im Portemonnaie»

am 12. Apr 2024
Die Schweiz am Abgrund?

SVP-Nationalrat Pascal Schmid: «Wir müssen den Kurs rasch ändern»

am 16. Apr 2024
Appenzell Ausserrhoden zieht positive Bilanz

So etwas gab es noch nie: Wegen Windböen konnte der Böögg am Sechseläuten nicht angezündet werden – Nun ist Appenzell am Zug

am 16. Apr 2024
René Steiner, Präsident der ASTAG Ostschweiz

Weshalb es den klassischen «rauhen» Fuhrhalter von früher nicht mehr gibt

am 15. Apr 2024
Bestes Restaurant

1112 Google-Rezensionen sprechen für sich: Das griechische Restaurant Greco in St.Gallen wird mit einem Award ausgezeichnet

am 14. Apr 2024
Da stimmt was nicht

«Bericht zur sozialen Ungleichheit 2024»: Eine Nichtregierungsorganisation rechnet sich ins Nirvana

am 16. Apr 2024
Gastkommentar

Schulden der USA explodieren – können Aktien und Bitcoin davon profitieren?

am 17. Apr 2024
Stölzle /  Brányik
Autor/in
Huber & Senn

Roger Huber (1964) und Patrick Senn (1969) sind ehemalige Ostschweizer Journalisten, die lange Jahre bei nationalen Medientiteln gearbeitet haben. Heute unterstützen Sie Organisationen und Führungskräfte in der Krisenkommunikation und sind Gründungsmitglieder des Verbandes für Krisenkommunikation vkk.

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.