Der moderne Ablasshandel schenkt uns leider nicht das ewige Leben – aber er soll uns immerhin ein gutes Gewissen ermöglichen. Da muss man dann auch weniger Angst vor der Hölle haben.
Eigentlich geht es mir und uns nicht viel anders als den Menschen im ausgehenden Mittelalter. Wir fühlen den Druck, die Klimakatastrophe, das Schlechte gewinnt, die Hölle auf Erden – und hoffen darauf, dass die diversen Ablasshändel funktionieren. Wirklich wissen kann ich’s jedoch nicht. Die angstmachende Hölle (ohne Ablass) und das Ewige Leben (wenn ich einen Ablass kaufe…) finden ja heute wie damals an einem anderen Ort statt. Irgendwo, aber nicht hier. Das Gute am Ablasshandel besteht darin, dass ich abgesehen von etwas Geld nichts ändern muss. Geld wirkt wahre Wunder: Es externalisiert das schlechte Gewissen und löst es in Luft auf.
Ich befinde mich zwar gerade irgendwo zwischen Schimpf- und Predigtmodus, aber ehrlich gesagt habe ich den Mechanismus des modernen Ablasshandels noch nicht wirklich begriffen: Ich kaufe also z.B. für meine CO2 Emissionen freiwillig oder aufgrund von Vorschriften ein CO2 Zertifikat, und irgendwie werden mit diesem Geld irgendwo Klimamassnahmen verwirklicht. Wo bitte? Und wie? Und was bleibt vom Geld unterwegs zum guten Ziel auf der Strecke? Und das funktioniert wirklich? So genau kann man das zum guten Glück nicht wissen. Aber es wird schon funktionieren, weil es funktionieren muss. Es ist aber ganz gut, dass die Kompensation, das Klimaprojekt nicht hier stattfindet, sondern irgendwo anders. Man kann ja auch nicht alles selber machen.
Mein Sohn erzählt mir regelmässig von nikin.ch: Naja, die T-Shirts und Kleider seien nicht gerade der letzte Schrei, aber sie betreiben dafür Nachhaltigkeitsmarketing vom Allerfeinsten. Für jedes gekaufte Textil-Stück werde ein Baum gepflanzt. Du kaufst und konsumierst, und was immer Schlechtes damit verbunden sein sollte, wird grüngewaschen, weil ja ein Baum gepflanzt wird. Und Bäume sind gut, das wissen wir ganz bestimmt; auch Luther, der den Ablasshandel bodigen wollte, war ja bekanntermassen dieser Meinung.
Das Nikin-Beispiel hat es natürlich in sich, das ist wirklich eine Marketingmasch(in)e, die als eine Art perpetuum mobile funktioniert und am Ende fast ohne Produkt auskommt. Produkte sind ja auch in der Startup-Welt nicht unbedingt notwendig… Aber zurück zu Nikin: Du möchtest ein Gut kaufen. Vielleicht eigentlich nur aus Langeweile, und weil du seit 2 Wochen kein neues T-Shirt gekauft hast. Der wahrlich originelle Verkäufer suggeriert Dir gleich, dass das erstrebenswerte Gut eigentlich ziemlich problematisch sein könnte, weil es ja Energie frisst, na ja, weil es halt nicht nichts ist. Und überhaupt: Weil von nichts nichts kommt. Dann aber kommt die Marketingwende, und schon sieht man den Silberstreifen am traurigen Horizont: Mit dem T-Shirt hat es zwar irgendetwas Negatives auf sich, aber das Problem kannst Du gleich sofort lösen, indem wir für Dich einen Baum pflanzen. Nein natürlich nicht hier, irgendwo. Wir zeigen Dir sogar mit einem Baumtracker, wo dein Baum steht oder zumindest stehen könnte. Du kannst sicher sein: nicht hier. Und du musst auch nichts tun, nur schön unsere Textilien kaufen, auch wenn du eigentlich keine brauchst. Glaube ja nicht, dass du ein Baum- äh Treehoody kaufst, nein, du kaufst in Tat und Wahrheit einen Generalablass. Nikin selber bringt das in den Google Ads so gut auf den Punkt, dass auch mir fast nichts zu sagen bleibt: "Bezahlbare Nachhaltigkeit." Billiger war das gute Gewissen nie zu haben.
Gärtnern Sie weiter.
Herzliche Grüsse
Markus Kobelt
Markus Kobelt ist Gründer und zusammen mit seiner Frau Magda Kobelt Besitzer von Lubera.
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