Auf der Redaktion des Tages-Anzeigers stehen sich ja eigentlich fast immer zwei Lager gegenüber.
Es sind dies: Die rot-grünen Jakobiner mit starkem Rückhalt bei ihrer linken städtischen Leserschaft, die eigentlich lieber bei der WOZ arbeiten würden. Und der eher pragmatische wirtschaftsorientierte Flügel, der politisch stärker zur Mitte tendiert und sich gut auch einen Arbeitsplatz bei der NZZ vorstellen könnte. Man muss nicht einmal über pikante Interna aus der Tagi-Redaktion verfügen, um den Kampf der beiden Fraktionen zu verfolgen. Ein Blick in die Zeitung genügt.
So auch im Fall der Lockerung des Corona-Lockdowns, der wichtigsten News von letzter Woche. «Der Bundesrat kippt», so lautete die Tagi-Schlagzeile auf der Frontseite, illustriert mit einer eindeutigen Karikatur: Ein bulliger Station-Wagon rast aus der Bundeshaus-Garage und rammt im Caracho eine Abschrankung, die mit «Etappen-Lockerungs-Regeln» beschriftet ist. Passagiere sind die triumphierenden Bundesräte Maurer und Cassis, am Steuer sitzt Guy Parmelin, neben ihm Karin Keller-Sutter. Am Strassenrand: ein fassungsloser Alain Berset.
Ein Kommentar der Noch-Tagi-Chefredaktorin Judith Wittwer macht dann noch der letzten Leserin deutlich, was gemeint ist: «Der Bundesrat probt eine gefährliche Lockerheit. Mit ihrem Hü und Hott verspielt die Regierung gerade das Vertrauen in ihre Corona-Politik.» Fatal sei, dass der Bundesrat von seinem eigenen Kurs abgekommen sei, und zwar «unter dem Druck der Solotänzer Cassis und Maurer, die in schamloser Offenheit die Corona-Politik des eigenen Gremiums kritisiert und das Kollegialitätsprinzip geritzt haben.» Damit steige das Risiko, dass die Infektionsraten wieder hochschnellen und eine zweite Welle auf die Schweiz zurollt.
Mit diesem Kommentar stellte sich Judith Wittwer nicht nur gegen die Mehrheit der schweizerischen Medienkommentare, welche die Lockerungen mehrheitlich begrüssen, sondern anscheinend auch gegen einen Teil ihrer Redaktion. Über-Chefredaktor Arthur Rutishauser betont in einem eigenen Kommentar am Samstag die ökonomischen Vorteile einer rascheren Öffnung: «Vielleicht kommt jetzt wieder Zug in die Wirtschaft, und wir können die Massenarbeitslosigkeit noch abwenden.» Am Dienstag dieser Woche dann der scharfe Kontrapunkt. «Hört auf mit der Angstmacherei», fordert Inlandredaktorin Claudia Blumer: «Der Hinweis auf Risiken bei der Rückkehr zum Normalbetrieb ist schädlich. Denn er schürt Angst. Und Angst ist Gift.» Genausogut könnte man jede Meldung zum Strassenbau mit dem Hinweis auf das Risiko eines Verkehrsunfalls ergänzen. Die Spitzen gegen die Redaktionschefin sind unübersehbar.
Zumindest an ihrem neuen Arbeitsort wird sich Judith Wittwer nicht unbeliebt gemacht haben: Bei der «Süddeutschen Zeitung», wo sie demnächst ihr Amt als Co-Chefredaktorin antreten wird. Beim Organ der Bedenkenträger aus der bundesrepublikanischen linksliberalen Intelligentsija liegt sie mit ihrem Plädoyer für den lenkenden und für alle denkenden Staat goldrichtig. Deutschlands «Mutti» Merkel wird es mit Genugtuung zu Kenntnis genommen haben.
Dr. Salzgeber benötigt sein Pseudonym, um kritisch und ungeschminkt für «Die Ostschweiz» schreiben zu können. Der prominente Kenner der Zürcher Medienszene beobachtet regelmässig auch die Ostschweizer Medienlandschaft.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.