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Raymond Gimmi

«Ich bin ein verdammter Idealist»

Sich aus dem Flugzeug zu stürzen und die Welt von oben zu betrachten: Raymond Gimmi hat das über 10'000 Mal gemacht. Der passionierte Fallschirmspringer kann sich ein Leben ohne seinen Sport nicht vorstellen – auch wenn er sich solche Gedanken in naher Zukunft wohl machen muss.

Manuela Bruhin am 16. Januar 2022
Skydive Skydive Skydive Skydive Skydive Skydive Skydive Skydive Skydive Raymond Gimmi

Ein fliegendes Gebiss. Ein gestandener Metzger, der im letzten Moment doch Muffensausen hat. Fallschirmsprünge neben Palmen in Dubai, über Wasserfällen in Argentinien, mitten in das Castelgrande in Bellinzona oder in das alte Stadion Letzigrund. Raymond Gimmi, Instruktor bei Skydive Ostschweiz, hat sie alle schon gemacht – insgesamt 10'663, um genau zu sein. An viele von ihnen erinnert er sich, als wären sie gestern gewesen. Auch wenn der 64-Jährige schon sein ganzes Leben dem Fallschirmspringen verfallen ist. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Nur seine Einstellung ist ruhiger geworden. «Ich muss nicht mehr alles um jeden Preis machen», sagt der Ostschweizer. Mit den Jahren kommt auch die Einsicht, und sie lässt ihn genau überlegen, was er möchte – und was eben nicht.

Der Plan B

Auch wenn er in seiner Jugendzeit mehr riskierte – leichtsinnig war er nie. Dennoch gab es auch bei ihm Situationen, in welchen er sprichwörtlich die Reissleine ziehen und so den Notschirm aktivieren musste. «Das kommt immer mal wieder vor. Und es ist wichtig, dass man einen Plan B hat. Den haben manche Adrenalin-Junkies eben nicht», so der Ostschweizer nachdenklich. Man übe die Vorgehensweise in der Ausbildung, wenn sich der Schirm nicht öffnen lässt. Aus welchen Gründen auch immer. Damit im Notfall jeder Handgriff wie von selbst abläuft. Und wirklich: «Das komische Gefühl kommt dann erst auf dem Boden. In der Luft ist man damit beschäftigt, alles abzuspulen und hat keine Zeit, sich gross Gedanken zu machen, was eigentlich gerade passiert.» Zugestossen sei ihm aber nie etwas. Als gefährlich sieht er Fallschirmspringen nicht an, vielmehr sei es «Charaktersache».

Raymond Gimmi

Raymond Gimmi

Vom Schrank aufs Bett

Und schliesslich hatte auch seine Familie ein Wörtchen mitzureden, wenn es um die Sprünge ging. Als die drei Kinder klein waren, musste zwar vieles hinten anstehen. Doch ganz weg vom Fallschirmspringen kam Raymond Gimmi nie. Zu gross ist die Leidenschaft, auch nach so vielen Sprüngen. Den Grundstein dazu legte er bereits früh in seiner Kindheit, als er mit einer Schnur zu seiner Mutter ging – mit den Worten: «Bastle mir einen Fallschirm.» Um sich damit später vom Schrank auf das Bett zu stürzen. Heute lacht er über diese Erinnerung, aber sie symbolisiert auch, wie gross seine Passion auch nach all den Jahren ist.

«Meine Sprünge musste ich mir damals alle abverdienen», so Raymond Gimmi. Er investierte einen Grossteil seines Lehrlingsgehalts und die Einnahmen aus Gelegenheitsjobs in die Sprünge. Gleich nach dem ersten wusste er: «Das ist mein Sport!» Erinnert er sich heute noch an seinen allerersten Sprung? «Und ob!» Mit weit geöffnetem Mund staunte er während des Springens, wie klein alles aussah, und die Landung absolvierte er sauber. Keine leichte Aufgabe, schliesslich steckte die Fallschirm-Technik damals noch in den Kinderschuhen. Die Steuerung der Rundkappenschirme funktionierte bei weitem nicht so feinfühlig, wie es heute der Fall ist. Oder, um es in den Worten des Sportlers zu beschreiben: «Man musste froh sein, wenn man einigermassen dort landete, wo man eigentlich wollte.» Die Technik und auch das Material habe sich im Laufe der Jahre entwickelt – wenn auch nicht immer nur zum Besseren, wie Gimmi findet. «Die Schirme sind immer kleiner geworden. Und das heutige Material verzeiht dir keinen Fehler. Landest du unkonzentriert, stehst du so schnell nicht mehr auf.»

Von Europa nach Südafrika

Auch wenn sich Gimmi nicht als Naturtalent beschreibt – gewonnen hat er im Laufe der Jahre viele Wettkämpfe. Besonders stolz ist er auf die Goldmedaille 1983 bei den Weltmeisterschaften im 4er-Formationenspringen in Südafrika. Anschliessend kam der Gedanke: «Und was jetzt?» Schnell war klar, dass er sein Hobby zum Beruf machen wollte. Er absolvierte die Schweizer-Instruktorenausbildung und arbeitete anschliessend drei Jahre im Para Centro Locarno als Profi. «Eine schöne Zeit war das», erinnert er sich zurück. «Ich konnte mir meinen Traum erfüllen.» In seiner Liste fehlt kaum ein Ort, an dem er nicht in etwa 3'500 bis 4'000 Metern aus dem Flugzeug gesprungen ist: Amerika, Südafrika, aber auch in Europa und in der Schweiz sah er so viele Orte von oben, wie wohl kaum ein anderer. «Es waren coole Sprünge an schönen Orten.»

Wann ist der Zeitpunkt da?

Und genau diese Momente sind es, die Gimmi dazu verleiten, auch heute noch regelmässig zu springen. Waren es früher deren 12 am Tag, ist er heute mit fünf zufrieden. Springen kann jeder, der einigermassen fit ist. Ab 60 ist ein ärztliches Attest für Erst- und Tandemspringer nötig. Doch wann ist der richtige Zeitpunkt, um aufzuhören? Klar, auch 90-jährige sind noch gesprungen – davon hält der Ostschweizer jedoch nicht besonders viel. Eine schwierige Frage also, die ihn persönlich sentimental werden lässt. Einerseits ist da der fehlende Nachwuchs im Verein, wie ihn so viele andere ebenfalls kennen. «Andererseits bin ich wohl einfach ein verdammter Idealist», sagt er lachend. «Wenn ich die Freude in den Gesichtern sehe, wie viel Spass ihnen ein Sprung gemacht hat, dann ist das das Grösste für mich!» Und auf diese Gefühle möchte er vorerst nicht verzichten. Der letzte Befehl «Ready. Set. Go!» ist bei ihm noch nicht gefallen.

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Autor/in
Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

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