Seit Mai 2019 ist Johannes Holdener Vorsitzender der Bankleitung der Raiffeisenbank St. Gallen. In Kürze erfolgt die Umwandlung zu einer Genossenschaftsbank. Welche Veränderungen sind damit verbunden? Und wie unterscheiden sich die Banken heute noch untereinander?
Johannes Holdener, die Raiffeisenbank St. Gallen wird voraussichtlich im Sommer von einer Niederlassung von Raiffeisen Schweiz zu einer eigenständigen Genossenschaftsbank. Inwiefern verändert sich dadurch Ihr Job?
Der Job ändert sich für die Mitarbeitenden nicht gross, ausser dass wir dann eine Genossenschaft sind und darum auch Mitglieder in unsere Genossenschaft aufnehmen dürfen. Für mich ändert sich primär der Ansprechpartner. Aktuell rapportiere ich an den Departementsleiter Firmenkunden, Treasury & Markets von Raiffeisen Schweiz, zu künftig wird es der Verwaltungsrat der neuen Raiffeisenbank St. Gallen sein.
Jede der bisher über 220 Genossenschaftsbanken operiert unabhängig. Welche internen Prozesse müssen bis zum Stichtag im Sommer noch aufgegleist werden?
Per Stichtag übernehmen wir die Vorgaben von Raiffeisen Schweiz für die Raiffeisenbanken und die entsprechenden Prozesse. Diese sind im Wesentlichen nicht stark abweichend von den Vorgaben für die Niederlassungen. Wir waren sozusagen schon Raiffeisenbank, einfach ohne die Möglichkeit des Mitspracherechts durch unsere Genossenschafterinnen und Genossenschafter.
Ändert sich – abgesehen von der Möglichkeit, Anteilscheine zu kaufen – auch etwas für die Kundinnen und Kunden?
Kundinnen und Kunden können nach wie vor von den möglichen Mitgliedervorteilen profitieren, die wir bereits als Niederlassung unseren MemberPlus-Kunden angeboten haben. Dafür müssen die Kundinnen und Kunden aber mindestens einen Genossenschaftsanteil erwerben.
Die Raiffeisenbank St. Gallen wird mit diesem Schritt quasi an die lange Leine gelassen. Haben Sie damit deutlich mehr Spielraum im strategischen und operativen Geschäft?
Wir haben heute schon viele Freiheiten. Die strategischen Stossrichtungen gelten für die ganze Gruppe und werden von jeder Raiffeisenbank für den jeweiligen Geschäftskreis adaptiert. Die sen Freiraum haben wir heute schon für spannende Aktionen für unser Marktgebiet genutzt und werden diesen auch weiterhin nutzen. Zum Beispiel aktuell mit dem Sponsoring des Auffahrtslaufes in St. Gallen sowie der Standortförderung der Stadt St. Gallen. Mitglieder der Raiffeisenbank St. Gallen können am exklusiven Lauftraining mit Victor Röthlin teilnehmen, Startplätze oder Open-Air-St.Gallen-Tickets gewinnen.
Worin liegen für Sie die Kernwerte, die grossen Vorteile einer Genossenschaft?
Liberalität, Solidarität und Demokratie sind unsere genossenschaftlichen Werte. Sie werden durch die unternehmerischen Wert Glaubwürdigkeit, Nachhaltigkeit, Unternehmertum und Nähe ergänzt. Genau diese vier Werte beachten wir bei Entscheidungen für die Raiffeisenbank, sei es im Vertrieb oder in der Führung. Die grossen Vorteile liegen bestimmt in der notwendigen Bodenhaftung und der Nähe zu unserer Kundschaft, wobei kurzfristige Gewinnmaximierung nicht im Zentrum steht, sondern eine nachhaltige Entwicklung der Kundenbeziehung und eine Win-Win-Situation für das gemeinschaftliche Zusammenarbeiten.
Raiffeisen entwickelte sich in der Vergangenheit zu einem massgeblichen Player in der Finanzwelt. Worauf führen Sie persönlich diesen Erfolg zurück?
Raiffeisen hat in den letzten Jahren ihr Geschäftsmodell diversifiziert und wurde auch bekannt für ihre Kompetenz in Bereichen wie Vermögensverwaltung, Pensions und Nachlassplanung oder Erbschaftsfragen. Daneben wird aber auch dem Kerngeschäft, der Kredit und Kapitalvermittlung weiterhin viel Beach tung geschenkt.
Sie selbst sind bereits seit 22 Jahren für Raiffeisen tätig. Verspürten Sie niemals die Lust, die Luft eines anderen Instituts einzuatmen?
Tatsächlich bin ich schon seit 22 Jahren für die Raiffeisen-Gruppe tätig und habe diesen Schritt nie bereut. Davor hatte ich meine Ausbildung und diverse Stationen bei der Credit Suisse durchlaufen dürfen, was ich auch nicht missen will. Persönlich bin ich über die Jahre mehr und mehr ein Raiffeisen-Fan geworden und so begegne ich meinem Job und vor allem meinen Mitarbeitenden tagtäglich mit grosser Freude.
Ich habe zwei Kinder, die gerade in dem Alter sind, in dem sie die Bedeutung von Geld erfahren. Was sollte ich ihnen Ihrer Meinung nach vermitteln?
Als Kind habe ich folgende Sätze gehört: «Spare in der Zeit, so hast du in der Not», oder «Schlaf noch eine Nacht darüber, bevor Du den Kaufentscheid triffst». Meiner Meinung nach sollte der bewusste Umgang mit dem Geld vermittelt werden. Wenn man sich bewusst wird, wie lange man für etwas sparen muss, wird auch nicht einfach konsumiert.
Sicher würden Sie meinen Kindern ebenfalls empfehlen, ein Raiffeisen-Konto zu eröffnen. Ganz ehrlich: Macht es in der heute immens regulierten Bankenwelt überhaupt noch einen Unterschied, bei welcher Bank ich mein Konto habe?
Selbstverständlich würde ich das empfehlen! Ich empfehle aber auch den sukzessiven Vermögensaufbau über einen Fondssparplan, in den mindestens 50 Franken im Monat einbezahlt werden. So werden Jugendliche an das Thema Sparen herangeführt, denn Anlegen ist das neue Sparen. Tatsächlich sind die Unterschiede hinsichtlich Produkten nicht gross. Die grössten Differenzierungsmerkmale von Raiffeisen sind bestimmt die unvergleichliche Kundennähe und das genossenschaftliche Gedankengut mit dem Mitbestimmungsrecht und vor allen den Genossenschaftsvorteilen.
Geld kann nicht selten entscheidend sein, ob ich eine unternehmerische Vision verwirklichen kann oder nicht. Wie sehr ist es entscheidend, ob ich mein Gegenüber bei der Bank mit meiner Leidenschaft anstecken kann? Oder sind es letztlich einfach die harten Zahlen und Fakten, die entscheidend sind?
In Neudeutsch reden wir hier von «Relationship Management», d.h., wir müssen fähig sein, die Beziehung zu den Kundinnen und Kunden aufzubauen und diese aktiv zu leben. So werden wir Ansprechpartner und pflegen die Beziehun gen entweder selber oder wir suchen einen ent sprechenden Spezialisten oder eine Spezialistin aus unseren Reihen oder unserem Netzwerk. Ein reiner Fokus auf harte Zahlen und Fakten ist zu einseitig. Viel wichtiger erscheint mir die regionale Verankerung und dass wir unsere Kundinnen und Kunden kennen.
Verselbstständigung der Niederlassung
Mit der Verselbstständigung der Niederlassungen von Raiffeisen Schweiz baut Raiffeisen ihr genossenschaftliches Modell weiter aus. An der Generalversammlung 2021 haben die Vertreterinnen und Vertreter der Raiffeisenbanken der Verselbstständigung der sechs Niederlassungen mit 98 Prozent Ja-Stimmen zugestimmt. Die Umsetzung ist im Gange und erfolgt in Etappen. Die Niederlassungen in Bern und Thalwil treten seit 24. Januar 2022 als autonome Raiffeisenbanken auf. Winterthur und St. Gallen folgen voraussichtlich im Sommer 2022 sowie Basel und Zürich voraussichtlich Anfang 2023.
Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».
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