Der in Schaffhausen lebende Thurgauer Schriftsteller Alfred Wüger veröffentlichte eben seinen 246-seitigen Roman «Gute Unterhaltung». Er ist im kleinen Bodenseedorf Landschlacht angesiedelt. Es wird ein Wandlungsprozess dargestellt, der den Protagonisten René Sernatinger völlig umkrempelt.
Das Titelbild Ihres neuen Romans zeigt ein bekanntes Gemälde von Dante Gabriel Rossetti und heisst «Proserpine» von 1874. Es hängt in der Londoner Tate Gallery. Jane Morris ist der Name des Modells, das Rossetti immer wieder in seinen Gemälden porträtierte. Eine fast obsessive Verehrung verband den Maler und Dichter wohl mit seiner schönen Muse. Sie jedoch war mit einem Malerkollegen verheiratet und demnach unerreichbar und schicksalhaft gefangen. Warum wählten Sie dieses Bild aus?
Weil es sehr ausdrucksstark ist und ich kaum ein anderes hätte finden können, das besser zur Vielschichtigkeit des Textes passt.
Um was geht es in Ihrem neuen Roman «Gute Unterhaltung», der am Bodensee angesiedelt ist?
Es wird ein Wandlungsprozess dargestellt, der den Protagonisten René Sernatinger völlig umkrempelt. René heisst ja wiedergeboren. Er geht mit seinem alten Ich unter und ist am Schluss einer, der sagen kann: «Jetzt bin ich, was ich werde.» Er steht also an einem Neuanfang.
Wie kamen Sie auf die Idee zu dieser Geschichte?
Plötzlich tauchte der Name Pluto auf, eine vage Ahnung der Unterwelt. Ich wunderte mich. Eine ganze Weile später, eine Kollegin hatte mir von einem Besuch in der Landschlachter Kapelle St. Leonhard erzählt, sass ich an meinem Büro, damals in Zürich, am Schreibtisch, erinnerte mich an eine schmerzlich zu Ende gegangene Verliebtheit und schrieb das erste Kapitel gleich an Ort und Stelle. Und dann kam eins zum andern.
Ein autobiografischer Roman?
Die Fantasie und die Erinnerung sind letztlich immer autobiografisch, denn schliesslich bin ich es, der die Gefühle gehabt, die Fiktionalisierungen gestaltet, den Schmerz erlebt, die geschilderten Szenen gesehen hat und von den Gedanken umgetrieben worden ist.
Immer wieder wird auf fast 250 Seiten Existenzielles diskutiert. Am Schluss kann der Protagonist René Sernatinger sagen: «Ich bin jetzt, was ich werde.» Was meinen Sie damit?
Das habe ich oben schon anzudeuten versucht. Oft sagt man ja «Ich werde, was ich bin», so, als ob man im Grunde, in der Tiefe, irgendwo bereits «fertig» wäre und diesen Schatz jetzt nur noch zu heben hätte, um die vorhandene Potenz und sich selbst sozusagen zu verwirklichen. Dieser Gedanke des Fertig-, des Abgeschlossenseins ist mir völlig fremd. Jeder Tag ist ein Geburtstag, jeden Tag ist alles völlig neu, unbeschadet von der sogenannten Lebenserfahrung.
Sie kennen das kleine Thurgauer «Schlafdorf» Landschlacht in der Gemeinde Münsterlingen am Bodensee, wo ich selbst lebe, einige Kilometer von Kreuzlingen und Konstanz entfernt, mit der bedeutenden vor 1000 erbauten Kapelle St. Leonhard mit gotischen Fresken gut. Warum?
Ich kannte es nur flüchtig, bin aber dann hingefahren, und als der Roman schon weit fortgeschritten habe, habe ich dort in der kleinen Pension auch übernachtet. Es ist dort ganz anders, als im Roman beschrieben. Und der Obstgarten, der im Buch recht gross ist, wurde inzwischen leider zu einem beträchtlichen Teil überbaut. Das Dorf kenne ich im Grunde nicht. Aber man kann sich aus den vorhandenen Restaurants die Beiz «Transit» im Buch vorstellen, und das «Fischerhüüsli» am Ufer ist nach wie vor ein unübersehbares Bijou.
Sie beschreiben sachkundig, mit viel Lokalkolorit die Umgebung, auch das Kantonsspital und die Psychiatrische Klinik Münsterlingen, das Ufer, das Fischerhus, den Blick über das «Schwäbische Meer» bis in den Überlingersee hinein. Waren Sie mit Ihrem Vater, Alfred Wüger der als Kapitän bis 1974 bei der Schweizerischen Schifffahrtsgesellschaft Untersee und Rhein AG (URh) tätig war, in dieser Seegemeinde?
Nein. Als Kind war ich mit ihm oft im Spital, wenn jemand aus meinem familiären Umfeld dort lag. Später war ich als Sanitätssoldat im Territorialdienst der Armee im Münsterlinger Spital.
Können Sie sich vorstellen, dass jemand wegen Ihres Buches in das 1462-Seelen-Dorf Landschlacht reist und die genau beschriebenen Orte aufsucht? Obwohl es kein Tourismusführer ist, sondern ein Roman mit «melancholischem Sound», wie Ihr Verleger Matthias Ackeret sagt. Es geht Ihnen vermutlich mehr ums Atmosphärische, Literarische und das Existenzielle, oder?
Genau. Als ich neulich wieder da war, wunderte ich mich selber, was da, gemäss meiner Geschichte, alles passiert sein soll. Aber man kann natürlich mit Gewinn am See spazieren und über das Wasser blicken. Ich selber fahre sehr gerne an Orte, wo die Romane spielen, die ich lese. Vor allem sollte man auch nach Ludwigshafen und zum Kloster Birnau reisen. Und auf die Insel Reichenau, denn auch diese spielt im Roman eine grosse Rolle.
Wie lange haben Sie am Roman geschrieben und wie verlief der Schreibprozess? Einen Verleger mit Schaffhauser Wurzeln haben Sie im letzten Jahr auf Anhieb gefunden.
Wie lange das ging, weiss ich nicht mehr so genau. Es ging jedenfalls recht flott voran. Im Zug beim Pendeln, in Hotels in Weimar und in Baden-Baden, zu Hause. Einen Verlag habe ich nicht ernsthaft gesucht, weil ich keine Zeit hatte. Ich habe als Auftragsarbeit ein Buch über die Transsexuelle Nadja Brönimann geschrieben und danach weitere Romane. Ich musste die Gelegenheiten beim Schopf packen. Kreativität erzeugt Notwendigkeit. Da kann man nichts verschieben. Matthias Ackert und ich kennen uns von früher. Als er mir mitteilte, er habe einen Verlag gekauft, schickte ich ihm «Gute Unterhaltung», und es hat gepasst.
Planen Sie Lesungen in der Ostschweiz?
Sagen wir’s so: Planen tue ich diese Lesungen nicht direkt, komme aber, sobald ich eingeladen werde. Gerne auch mit den Musikern.
Der Journalistenberuf gibt die Möglichkeit, viele verschiedene Lebensentwürfe zu beobachten und zu beschreiben und die Vielfalt des Lebens abzubilden. Würden Sie heute wieder diesen Beruf wählen? In der Medienwelt muss alles schneller und kürzer werden. Ist das Schreiben eines 246 Seiten langen Roman eben eine gute Gegenwelt zum tagesjournalistischen «Kurzfutter»?
Es ist, wie Sie sagen. Ich habe die Berufswelt und alles, was mir begegnet ist, stets als Quelle für die Kunst erlebt. Ohne zu leben, kann man nicht Künstler sein. Ich bin zwar ein Einzelgänger, aber ich lebe nicht im Elfenbeinturm. Auch meine Familie bewahrt mich davor. Als ich «Gute Unterhaltung» schrieb, lebte ich allein und arbeitete als Korrektor in einer Druckerei in Zürich. Lange Präsenzzeiten, oft wenig Arbeit, sodass ich ohne Weiteres Zeitungsartikel und mehr schreiben konnte. Das Schreiben von literarischen Texten ist etwas völlig anderes als Artikel zu schreiben. Man befindet sich in den besten Momenten in einem Fluss, alles stimmt, und nichts kann einen stören. Auch das sogenannte Tagesgeschäft nicht. Alles stimmt, alles ist hoch energetisch und schön.
Ende Mai 2022 wurden Sie pensioniert und Sie werden die Tageszeitung «Schaffhauser Nachrichten» an der Vordergasse 58 verlassen. Welche Geschichten möchten Sie noch erzählen?
Wie gesagt, einiges ist schon geschrieben. Das kann aus meiner Sicht nun nach und nach veröffentlicht werden. Zurzeit arbeite ich an einem Roman, der «Logos» heisst. Ab dem Herbst werde ich bei den «Schaffhauser Nachrichten» auf Wunsch der Redaktion zu einem reduzierten Pensum weitermachen.
Zur Person Alfred Wüger
Alfred Wüger wurde am 11. Mai 1957 in Steckborn am Untersee TG geboren, wo er auch aufwuchs. Er lebt seit 1971 in Schaffhausen, wo Wüger bei den «Schaffhauser Nachrichten» eine kaufmännische Ausbildung absolvierte. Nach der Zweitwegmatura studierte er Nordistik (auch Nordische Philologie oder Skandinavistik genannt), Philosophie, Russisch und Theologie in Zürich und in Uppsala (Schweden). 2006 schrieb er zusammen mit der Transsexuellen Nadja Brönimann «Seelentanz: ich folge meinem Weg». Seit rund 30 Jahren ist er als freier Journalist tätig, seit 2012 arbeitet er als Redaktor bei den «Schaffhauser Nachrichten». Er lebt mit seiner Familie in Schaffhausen.
Zum Buch: «Gute Unterhaltung»
Der Roman «Gute Unterhaltung» schildert den seelischen Wandlungsprozess, den René Sernatinger durchlebt, nachdem ihn eines Morgens die Erinnerung an eine vergangene Liebe überfällt. Am Tag davor war er auf dem Uetliberg bei Zürich gewesen, wo er, im Nebel, mit dem litauisch-stämmigen Geschwisterpaar Max und Agatha Naujoks ins Gespräch gekommen war. Die beiden sind pensionierte Mathematiklehrer und betreiben in Landschlacht am Bodensee eine Pension. Kurz entschlossen mietet sich Sernatinger tags darauf in Landschlacht ein, und es entspinnen sich Dialoge mit den Gastgebern, mit Vera, der Bedienung, und mit Joe, dem Wirt im «Transit», mit der hässlichen Helene, die in der psychiatrischen Klinik wohnt, sowie mit Adam Turtschi, einer bäurischen Gestalt, die Max Naujoks zum Verwechseln ähnlich sieht. Immer wieder wird Existentielles diskutiert. Am Schluss kann Sernatinger sagen: «Ich bin jetzt, was ich werde.»
Urs Oskar Keller (*1955) ist Journalist und Fotoreporter. Er lebt in Landschlacht.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.