Ab Ende April ziehen erneut Menschen in Wiboradas Zelle neben der Kirche St.Mangen ein, um das Leben und Wirken der ersten heiliggesprochenen Frau nachzuspüren. Eine, die sich letztes Jahr für eine Woche einschliessen liess, ist Hildegard Aepli. Sie weiss, was die neuen Inklusinnen erwartet.
Vor über tausend Jahren lebte die Heilige Wiborada von St.Gallen neben der Kirche St.Mangen als Eingeschlossene in einer Zelle. Vor einem Jahr liessen sich zehn Frauen und Männer in einer neu errichteten Zelle an der Aussenwand der Kirche St.Mangen einschliessen, um dem Leben und Wirken der ersten heiliggesprochenen Frau nachzuspüren. Das Projekt Wiborada2021 stiess auf eine grosse Resonanz in der Öffentlichkeit und kann zurecht als Erfolg bezeichnet werden. Die Inklusinnen und Inklusen wurden im letzten Jahr 810-mal besucht; eine der Inklusinnen war die St.Gallerin Hildegard Aepli.
Auf die Frage, wie sie sich vor einem Jahr auf ihre Zeit in der Zelle vorbereitet habe, antwortet sie: «Als Gruppe. Wichtig war uns die Auseinandersetzung mit Wiborada. Wir wollten sie kennenlernen.» Natürlich sei es auch um ganz praktische Dinge gegangen, wie: Was nehme ich mit in die Zelle und was nicht? Wie funktioniert das mit der Versorgung: Wer bringt frisches Wasser, wer eine warme Mahlzeit oder wann wird die Toilette gereinigt? «Ein ganz wichtiger Punkt war die Frage, wie wir auf die Menschen eingehen, die uns am offenen Fenster ihre Anliegen anvertrauen», erzählt Aepli. Dazu haben sie mittelalterliche Regeln für Inklusinnen gelesen und haben sich so einen Tagesablauf für die Zeit in der Zelle definiert. Gefehlt habe es ihr letztendlich in der Zelle an nichts, «höchstens das Draussensein und die Bewegung», lacht die 59-Jährige, die sich jederzeit wieder einschliessen lassen würde.
Wider das Vergessen
Aepli ärgert sich, dass Wiborada während zehn Jahren als Inklusin für die Stadt St.Gallen gelebt und diese vor der Verwüstung des Ungarnüberfalles gerettet hat und trotzdem immer wieder in Vergessenheit gerate. «Mir fehlt die Präsenz und das Bewusstsein über das aussergewöhnlich spirituelle Leben einer Frau in der Geschichtsdarstellung der Stadt und in den Köpfen von uns allen», sagt Aepli.
Nicht zuletzt darum und aufgrund des letztjährigen Erfolgs hat sich das ökumenische Projektteam entschieden, das Projekt dieses Jahr fortzuführen, wie es in einer entsprechenden Mitteilung von letzter Woche heisst. Die Bevölkerung soll Wiborada «erleben», dieser Schatz aus dem kulturellen Erbe der Stadt St.Gallen soll wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken. Am «Tag der Offenen Zelle» am 23. April können Interessierte erfahren, wie Inklusinnen in St.Gallen über 600 Jahre lang gelebt haben und wie Menschen heute Wiborada wiederentdecken. Ebenfalls am 23. April um 18 Uhr findet die Vernissage des Buches «Wiborada von St.Gallen. Neuentdeckung einer Heiligen» in der Kirche St.Mangen und der Stiftsbibliothek statt.
Ab dem 29. April gehört die Zelle den neuen Inklusinnen. Diese werden mit einem wöchentlichen Ein- und Aufschlussritual in die Zelle verabschiedet respektive wieder aus der Einsamkeit «entlassen». Die Inklusinnen öffnen ihre Fenster zu festen Zeiten. Während den fünf Wochen, in denen die Inklusinnen in der Zelle bei St.Mangen leben, wird es in der Kirche regelmässige Abendgebete geben. Um Wiborada im kulturellen Gedächtnis zu verankern, gestaltet die St.Galler Künstlerin Michèle Thaler im Rahmen des Kunstprojekts «Vergessene Frauengeschichte» «Eine Tür für Wiborada» . Vernissage ist am Wiboradatag am 2. Mai. Der Stationenweg zum Leben und Wirken der Heiligen Wiborada in und um die Kirche St.Mangen wird wieder aufgebaut und ergänzt. Dieser kann individuell oder mit einer gebuchten Führung besucht werden. Mit der mobilen Mini-Ausstellung «Wiborada geht auf Reisen» können Kirchgemeinden und Pfarreien im ganzen Kanton Wiborada kennenlernen.
Michel Bossart ist Redaktor bei «Die Ostschweiz». Nach dem Studium der Philosophie und Geschichte hat er für diverse Medien geschrieben. Er lebt in Benken (SG).
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