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Politische Grabenkämpfe

Intolerante Linke: Die rechten Klassenkämpfer haben sich zu früh gefreut

Linke, gut ausgebildete Städterinnen und Städter seien besonders intolerant, heisst es. Die Behauptung stimmt so nicht. Unser Autor gräbt sich dafür tief in die Zahlen einer Studie.

Thomas Baumann am 18. August 2023

Erst titelte Autorin Bettina Weber in der «Sonntagszeitung»: «Links, urban, gebildet und intolerant.» Eine Studie zeige, dass «jene, die sich für besonders offen halten, andere politische Meinungen am wenigsten akzeptieren».

Markus Somm glaubte daraufhin gar einen «neuen Klassenkampf», eine Art «Klassenkampf von oben» zu sehen. Mit Verlaub, das ist Quatsch.

Wer Andersdenkende stärker ablehnt

Affektive Polarisierung misst, wie sehr jemand Personen oder Gruppen verabscheut, die eine andere politische Haltung vertreten. Eine Studie des Forschungszentrums «Mercator Forum Migration und Demokratie» (Midem) an der Technischen Universität (TU) Dresden mit über 20'000 Befragten in zehn europäischen Ländern zeigte: Linke sind polarisierter als Rechte, Bewohner von Grossstädten polarisierter als Landbewohner, gut Ausgebildete polarisierter als weniger Gebildete. Oder mit anderen Worten: Sie lehnen Andersdenkende stärker ab.

In ihrer Medienmitteilung schrieb die TU Dresden: «Die gut ausgebildete städtische Klasse und Linke sind am meisten polarisiert.» Eine Steilvorlage für Somms Klassenkampfargument.

Fakt ist aber auch: In der Studie selbst kommt der Begriff «Klasse» kein einziges Mal vor.

Linke in Städten übervertreten

Tatsächlich hat die TU Dresden mit dieser Formulierung ihrer Studie keinen Gefallen getan. «Gut Ausgebildete und Städter» sind nämlich nicht dasselbe wie «gut ausgebildete Städter». So ist beispielsweise durchaus denkbar, dass zwar gut Ausgebildete intolerant sind, Städterinnen an sich aber nicht intoleranter sind als Landbewohner.

Weil aber in der Stadt viele gut Ausgebildete wohnen, wirkt es dann, als seien Städterinnen und Städter intolerant.

Dasselbe gilt auch für die politische Gesinnung: Wenn Linke tendenziell intoleranter sind, führt dies dazu, dass Stadtbewohner ebenfalls tendenziell intolerant sind ganz einfach deshalb, weil Linke in den Städten übervertreten sind. Ohne, dass Städter von Natur aus intoleranter wären als Bewohner anderer Gebiete.

Essen Tierfreunde häufiger Fleisch?

Man darf also die verschiedenen Effekte nicht einfach addieren, sondern müsste im Rahmen einer multiplen Regressionsanalyse die verschiedenen Variablen kontrollieren. Tut man das nicht, können unsinnige Ergebnisse herauskommen, wie beispielsweise: «Tierfreunde essen häufiger Fleisch.»

Der Grund dafür ist simpel: Tierschutz ist in wohlhabenden Ländern verbreiteter als in armen Ländern. Dort wird aber auch mehr Fleisch gegessen einfach, weil es sich die Bevölkerung eher leisten kann.

Die rechten Klassenkämpfer könnten leer schlucken

Liest man die Studie des Forschungszentrums Midem aufmerksam, stösst man dort auch auf etliche Resultate, welche die rechten Klassenkämpfer leer schlucken lassen würden (so sie die Studie denn gelesen hätten). Zum Beispiel: Eine Mehrheit der Befragten fordert nicht bloss eine restriktivere Immigrationspolitik, sondern mit teils deutlichen bis überwältigenden Mehrheiten auch schärfere Massnahmen gegen den Klimawandel sowie verstärkte Anstrengungen für die Gleichstellung der Geschlechter und gegen die Diskriminierung sexueller Minderheiten.

So meinen dreimal mehr Befragte, dass die Politik nicht genug gegen den Klimawandel unternehme, als der Ansicht sind, es werde zu viel getan.

Der Teufel liegt im Detail

In der Studie wurden die Teilnehmer zu insgesamt sieben Themen (Migration, Ukraine-Krieg usw.) befragt. Die Ergebnisse der einzelnen Themen wurden daraufhin addiert, um die generelle affektive Polarisierung zu berechnen. Für eine vertiefte Analyse ist es daher unabdingbar, sich mit den einzelnen Themenbereichen zu beschäftigen:

1. Immigration: Zwei Drittel der Befragten fordern stärkere Beschränkungen der Zuwanderung. Affektiv am stärksten polarisiert sind Ältere, Personen mit tiefem Bildungsniveau, Personen mit mittlerem und hohem Einkommen. Rechte sind stärker polarisiert als Linke.

2. (Militärische) Unterstützung für die Ukraine: Jeweils etwa gleich viele Befragte sind für mehr oder weniger Engagement. Affektiv am stärksten polarisiert sind Männer, Ältere, Personen mit tiefem Bildungsniveau, Personen mit hohem Einkommen. Linke und Rechte sind ähnlich stark polarisiert.

3. COVID-19: Jeweils etwa gleich viele Befragte fanden die Pandemiemassnahmen angemessen oder als zu weit gehend. Affektiv am stärksten polarisiert sind Ältere, Personen mit tiefem Bildungsniveau, Personen mit mittlerem und höherem Einkommen. Linke und Rechte sind ähnlich stark polarisiert.

4. Klimawandel: Eine Dreiviertelmehrheit der Befragten fordert einschneidendere Massnahmen gegen den Klimawandel. Affektiv am stärksten polarisiert sind Ältere, Personen mit hohem Bildungsniveau, Personen mit mittlerem Einkommen, politisch links Stehende.

5. Soziale Wohlfahrt: Sechzig Prozent der Befragten befürworten weniger Sozialleistungen und tiefere Steuern, vierzig Prozent das Gegenteil. Affektiv am stärksten polarisiert sind Männer, Ältere, Personen mit hohem Einkommen. Linke sind stärker polarisiert als Rechte.

6. Gleichstellung: Fast drei Viertel der Befragten befürworten stärkere Massnahmen. Affektiv am stärksten polarisiert sind Frauen (sehr deutlich!), Ältere, Personen mit hohem Bildungsniveau, Linke (sehr deutlich!).

7. Diskriminierung sexueller Minderheiten: Sechzig Prozent der Befragten finden, es werde viel zu wenig getan, vierzig Prozent finden, es werde viel zu viel getan. Affektiv am stärksten polarisiert sind: Frauen, Jüngere, Personen mit hohem Bildungsniveau, Stadtbewohner, Linke (sehr deutlich!).

Zusammenfassend fällt auf: Stark affektiv polarisiert sind bei allen Themen jeweils etwa zwanzig Prozent der Befragten, am meisten bei den Themen Migration und Klimawandel, am wenigsten beim Thema Steuern und soziale Wohlfahrt.

Die Themen Gleichstellung und Diskriminierung sexueller Minderheiten sind etwas anders gelagert als die übrigen Themen: Linke, Städter, Frauen, Personen mit hohem Bildungsniveau und, im Fall sexueller Minderheiten, auch Jüngere sind stärker polarisiert. Hier findet man also das klassische urbane «woke» Publikum.

Ältere und Männer reagieren extremer

Bei den fünf anderen politischen Themen sind eindeutig Personen über 55 Jahren am stärksten polarisiert und zwar überaus deutlich. Auch Männer neigen eher zur affektiven Polarisierung als Frauen, ebenso Personen mit tiefer Schulbildung und Personen mit hohem Einkommen.

Wie ein tiefes Bildungsniveau mit hohem Einkommen zusammengehen soll eine eher untypische Kombination wird in der Studie nicht erklärt.

Affektiv besonders polarisierte Gruppen

Schaut man sich die aggregierten Ergebnisse an, zeigt sich: Sowohl Personen mit tiefem wie mit hohem Bildungsniveau neigen überproportional zur Polarisierung. Der Grund dafür ist einfach: Bei drei (Migration, Ukraine-Unterstützung, COVID-19) der insgesamt sieben Themen sind Personen mit tiefem Bildungsniveau besonders polarisiert, bei drei anderen Themen (Klimawandel, Gleichstellung, Diskriminierung sexueller Minderheiten) hingegen Personen mit hohem Bildungsniveau.

Dies ergibt in der Summe, dass sowohl Personen mit hohem wie solche mit niedrigem Bildungsniveau stark zur Polarisierung neigen.

Frauen reagieren stark beim Thema Gleichstellung

Bei insgesamt vier Themen sind Männer polarisierter als Frauen. Weil aber die Frauen beim Thema Gleichstellung aus eigener Betroffenheit sehr stark affektiv polarisiert sind, sind Frauen dadurch in der Summe stärker polarisiert.

Dies zeigt, dass die Ergebnisse auch von der Wahl der einzelnen Themen abhängen. Wäre die Gleichstellung nicht Thema gewesen, dann wären in der Summe nämlich Männer affektiv stärker polarisiert als Frauen.

Zeitgeistthemen und die Städter

Stadtbewohner sind am stärksten polarisiert, aber kaum mehr als Bewohner von Kleinstädten. Der entscheidende Unterschied, warum die Bewohner von Grossstädten polarisierter sind als Bewohner von Kleinstädten, ist letztlich beim Zeitgeistthema «Diskriminierung sexueller Minderheiten» zu finden.

Personen mit mittlerem und hohem Einkommen sind stärker polarisiert als Personen mit tiefem Einkommen, wobei hohe Einkommen nur leicht vor mittleren Einkommen liegen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Linke, Personen mit tiefem und mit hohem Bildungsniveau, Personen mit mittlerem bis hohem Einkommen und Bewohner von Gross- und Kleinstädten polarisierter sind als andere Bevölkerungsgruppen.

Das rechte Narrativ, wonach linke, gut ausgebildete Grossstadtbewohner besonders intolerant seien, gilt es zumindest bezüglich der Punkte Ausbildung und Urbanitätsgrad schon einmal zu relativieren.

Der Wunsch, es möge vorwärts gehen

Linke sind intoleranter als Rechte und zwar deutlich. Doch auch hier verhilft eine detailliertere Betrachtung auf der Basis der sieben verschiedenen Themen zu einem besseren Verständnis der Gründe:

Beim Thema Migration wünschen zwei Drittel der Befragten also bei weitem nicht nur rechtsextreme Kreise eine Erhöhung der Hürden für die Zuwanderung. Kein Wunder, sind politisch rechts Stehende besonders frustriert, dass es trotz einer derart satten Mehrheit «nicht vorwärts geht».

Linke dürften hingegen weniger polarisiert sein, weil eine restriktivere Zuwanderung bis weit in die Mitte oder gar nach links Sympathien geniesst. Viele Linke kennen wohl in ihrem eigenen Umfeld Personen, welche der Immigration kritisch gegenüberstehen und sind dadurch gehalten, das Feindbild der «bösen Rechten» zu relativieren.

Umgekehrtes Bild beim Klimawandel

Beim Klimawandel hingegen sind Linksstehende intoleranter als Rechtsstehende. Kein Wunder, sind sie besonders frustriert, dass trotz einer überwältigen Mehrheit bis weit ins rechte Lager zu wenig geht in Sachen Klimaschutz.

Rechtsstehende wiederum sind selber teilweise für einen konsequenteren Klimaschutz es vermag daher kaum zu überraschen, sind sie eher tolerant gegenüber abweichenden Meinungen.

Klimakleber sollten sich im Licht dieser Ergebnisse hingegen fragen, ob sie mit ihren Aktionen nicht unnötigerweise rechte Sympathien beziehungsweise Toleranz für Anliegen des Klimaschutzes untergraben und so dem Klimaschutz letztlich mehr schaden als dienen.

Progressive Anliegen geniessen die Unterstützung der Mehrheit

Auch bei der Gleichstellung der Geschlechter und der Diskriminierung sexueller Minderheiten gilt dasselbe wie für den Klimaschutz. Die progressiven Anliegen geniessen die Unterstützung einer Mehrheit der Bevölkerung bis weit in die Mitte oder gar bis nach rechts.

Kein Wunder, ist rechts die Ablehnung solcher Positionen nicht einmütig und aus diesem Grund weniger emotional gefärbt. Während linke Kreise besonders frustriert sind, dass es trotz einer breiten Zustimmung mit der Umsetzung ihrer Anliegen nicht vorwärts geht.

Linke sind nicht intoleranter

Eine detaillierte Analyse der Studienresultate zeigt also, dass Linke nicht einfach von Natur aus intoleranter sind, sondern dass bei vielen der in der Studie behandelten Fragestellungen linke oder progressive Anliegen bis weit ins rechte Lager der Befragten Unterstützung geniessen. Entsprechend ist die Rechte in diesen Fragen gespaltener und weniger homogen als die Linke und daher toleranter gegenüber abweichenden Positionen, weil man nicht einmal unter sich einig ist.

Ist es hingegen umgekehrt, sind rechte politische Anliegen bis weit ins linke Lager hinein populär, sind es plötzlich die Rechten, die intoleranter sind. Dies zeigt, dass die Richtung affektiver Polarisierung in hohem Mass von den gewählten Themen abhängt. Pauschalisierungen sind daher nicht angebracht.

Stölzle /  Brányik
Autor/in
Thomas Baumann

Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.

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