Dr. theol. Mirjam Loos leitet seit Januar 2021 die Fachstelle «Religionsunterricht» der evangelischen Landeskirche im Kanton Thurgau. Im Interview erklärt sie, ob auch in diesem Bereich ein Fachkräftemangel herrscht und wie stark sich die Lerninhalte in den vergangenen Jahren verändert haben.
Mirjam Loos, seit meinem eigenen Religionsunterricht sind, ich will es kaum aussprechen, mehr als 30 Jahre vergangen. Wenn man den Unterricht von damals mit heute vergleicht, was sind die markantesten Unterschiede?
Die Unterschiede zum Religionsunterricht in den 1990er Jahren stechen bei einem Blick in ein heutiges Religionsklassenzimmer sofort ins Auge. Vor 30 Jahren, da sassen die Schülerinnen und Schüler mit Blick auf die Wandtafel, die Lehrperson erklärte – mal spannender, mal langwieriger – die Welt von vorne und die ganze Klasse dachte und schrieb normalerweise im Gleichtakt. Heutzutage, wenn wir eine Religionsgruppe beobachten, dann sehen wir, dass die Lernenden oft gleichzeitig an verschiedenen Plätzen im Klassenzimmer aktiv sind. Die einen sind möglicherweise in ein Buch vertieft und suchen nach Hintergrundinformationen, eine andere Gruppe ist kreativ tätig und gestaltet mit Farben ein Bild, andere bauen vielleicht aus Bauklötzen eine biblische Szene nach. Sie arbeiten alle zum gleichen Thema aber mit ganz unterschiedlichen Methoden und vermutlich in unterschiedlichem Tempo. Die Religionslehrperson, sie ist an vielen Orten gleichzeitig. Sie berät und gibt Rückmeldungen, aber sie lässt ihren Schülerinnen und Schülern auch genügend Zeit zum vertieften und selbständigen Arbeiten.
Das Fachwissen der Religionslehrpersonen, das ist bei der Vorbereitung solcher Lernlandschaften und bei der Begleitung der Schülerinnen und Schüler absolut wichtig. Aber lange Monologe und Belehrungen, die hält die Fachlehrkraft deswegen nicht. Denn Lernen gelingt dann, wenn Kinder und Jugendliche aktiv sind, d. h. wenn sie Dinge ausprobieren können und eigene Lösungen finden und wenn die Lernangebote differenziert sind.
Als markante Unterschiede zu früher?
Ich denke zu vor 30 Jahren hat sich im Religionsunterricht einiges verändert. Aber diese Veränderungen, die können alle genauso in anderen Fächern der Volksschule beobachtet werden. Denn die Lerntheorien auf denen guter Religionsunterricht aufbaut, die sind identisch mit den didaktischen und pädagogischen Grundprinzipien mit denen Lernen auch in anderen Fächern gelingt. Lernwege und Methoden sind deshalb häufig ganz ähnlich. Der Religionsunterricht ist hier sozusagen absolut auf der Höhe der Zeit.
Die positive und menschenfreundliche Botschaft des Christentums, die im kirchlich verantworteten Religionsunterricht im Zentrum steht, die ist übrigens gleichgeblieben. Aber das bezieht sich ja nicht nur auf die letzten 30 Jahre…
Gibt es in gewisser Hinsicht heute klare Lernziele?
Definitiv. Es gibt Lehrpläne für den kirchlich verantworteten Religionsunterricht mit Zielen und inhaltlichen Vorschlägen für alle Jahrgangsstufen. Im Thurgau beispielsweise haben die evangelische und die katholische Landeskirche gemeinsam einen Lehrplan erarbeitet. Dieser wird sowohl in konfessionell katholischen als auch in konfessionell evangelischen Lerngruppen sowie für einen ökumenischen Religionsunterricht verwendet. Ziel ist es, dass die Schülerinnen und Schüler von der Primar- bis zur Oberstufe immer religiös kompetenter werden. In insgesamt sieben Bereichen erwerben sie z. B. religiöse Ausdrucksfähigkeit oder sie lernen christliche Werte kennen und werden ermutigt eigene Standpunkte zu finden. Auch wird ihnen ermöglicht, eine persönliche christliche Identität (weiter) zu entwickeln.
Wer entscheidet grundsätzlich, welche Bereiche und in welcher Form vermittelt werden?
Die kirchlichen Lehrpersonen sind Expertinnen und Experten für das Planen und Unterrichten von Religionslektionen. Sie haben eine mindestens dreijährige Ausbildung absolviert, vielleicht noch eine Zusatzausbildung. Aufgrund dieser Ausbildung, die Theorie und Praxis eng verknüpft, und mit dem theologischen Wissen und den didaktischen und methodischen Fähigkeiten, die sie erworben haben, können sie – je nach Lerngruppe – entscheiden, welche Teilkompetenzen aus dem Lehrplan wie erarbeitet werden. Die Religionslehrpläne der Kantonalkirchen sind – genau wie die Volksschullehrpläne – kompetenzorientiert. Eine ganz genaue Festlegung, welche Inhalte in welcher Form vermittelt werden, das kann nur die Religionslehrperson für ihre Lerngruppe entscheiden. Natürlich arbeiten die einzelnen Lehrpersonen dabei in Teams in ihren Kirchgemeinden und Pfarreien zusammen.
Wird hierbei auch Druck von aussen ausgeübt?
Die Arbeitergeber der Religionslehrpersonen sind die Kirchgemeinden und Pfarreien. Gerade im Thurgau haben die Kirchgemeinden grosse Autonomie, das ist historisch zu erklären und das ist auch gut so. Wir Fachpersonen von den religionspädagogischen Fachstellen und Institute der Landeskirchen, wir bieten Aus- und Weiterbildung und Beratung an. Druck… damit hätten wir wohl weniger Erfolg… Wir versuchen mit unserer Fachexpertise zu überzeugen. Die Kirchenräte der Landeskirchen, also die Exekutive, die sind natürlich an der Entstehung von Lehrplänen beteiligt – und damit am grossen Rahmen dessen, wie kirchlich verantworteter Religionsunterricht aussieht.
In anderen Bereichen wird über einen Mangel an Fachkräften berichtet. Wie sieht das bei Ihnen aus? Finden Sie genügend Lehrpersonen?
Wir sind froh, dass wir immer wieder Interessierte finden, die sich zur Religionslehrperson ausbilden lassen. Im Moment laufen in den Ostschweizer Kantonen mehrere Ausbildungsgänge für Religionslehrpersonen auf Primarstufe und eine Zusatzausbildung für den Heilpädagogischen Religionsunterricht. Der nächste Kurs für die Oberstufe startet im Sommer 2022. Aber mancherorts, wo kirchlicher Religionsunterricht nur zu Randzeiten im Stundenplan stattfinden kann, da können Religionslehrpersonen nur in sehr kleinen und über die Woche verteilten Pensen unterrichten. Darunter leidet möglicherweise die Attraktivität des Berufs. Die Landeskirchen haben dies im Blick und suchen nach Modellen, die auch weiterhin gute Rahmenbedingungen für diesen vielfältigen Beruf bereitstellen. Damit auch künftig kein Fachkräftemangel entsteht!
(Foto: Verena Westernacher)
Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».
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