Laut Dompfarrer Beat Grögli könnte man den Lockdown als grosse Fastenzeit bezeichnen. Von heute auf morgen waren alle – ob gläubig oder nicht – zum Verzicht gezwungen. Ist dies demnach die Zeit der Kirche? Erleben ihre Werte einen Aufschwung? Und will Gott durch eine Pandemie etwas mitteilen?
Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine ergänzende Information zu einem im Printmagazin «Die Ostschweiz» publizierten Artikel. Hier geht's zu den Abo-Möglichkeiten.
Beat Grögli, während dem Lockdown hatten Tabakgeschäfte haben geöffnet, wir konnten in Shops Alkohol kaufen oder in der Autogarage die Sommerpneus montieren lassen. Gemeinsame Gottesdienste aber gab es nicht mehr. Offensichtlich gehört Ihr «Angebot» nicht zu den wichtigen Bereichen…
Es gibt auch noch andere Formen, wie wir den Glauben leben können – ob als Einzelperson oder in der Gemeinschaft. Ein Gottesdienst in Form eines Zusammentreffens von Menschen ist hier nicht absolut notwendig. Wenn drei Mal am Tag die Kirchglocke läutet, dann ist das auch ein Zusammenrufen zum Gebet. Uns war es wichtig, den Massnahmen des Bundesrats Folge zu leisten und das Versammlungsverbot zu respektieren. In Zeiten des Corona-Virus war deshalb das Feiern eines Gottesdienstes in der Kirche leider nicht möglich.
Wie haben Sie auf die Situation reagiert?
Die Gottesdienste in der Kathedrale St.Gallen wurden in der Folge per Live-Streams übertragen. Alles konnte dadurch natürlich nicht ersetzt werden. Vor allem die Zeit um Ostern war für viele Gläubige eine schwierige Phase. Ihnen fehlten beispielsweise der Zweig am Palmsonntag oder auch die Kommunion. Aber nochmals: Es war eine spezielle Situation, die spezielle Massnahmen von uns allen erforderte.
Wenn wir auf die Weltgeschichte zurückblicken, so gab die Kirche den Menschen vor allem in schweren Zeiten, beispielsweise während Kriegen oder nach Terroranschlägen einen wichtigen Halt. Während dem Lockdown war das nur bedingt möglich. Zog man hier nicht gewissen Gläubigen den Boden unter den Füssen weg?
Mit all jenen, die sich gewohnt sind, digital zu kommunizieren, war und ist es nicht schwierig, weiterhin einen Austausch zu pflegen. Aber die Älteren und jene, die die digitalen Möglichkeiten nicht kennen, erreichten wir natürlich schwieriger. Zudem waren die Leute anfangs zuerst damit beschäftigt sich selber zu organisieren, mit sehr alltäglichen Problemen.
Kann man dem Ganzen aus Sicht der Kirche auch etwas Positives abgewinnen?
Dass der Lockdown auf die Fastenzeit fiel, machte die Situation natürlich schon etwas speziell. Fastenzeit bedeutet eine Verlangsamung, bedeutet Verzicht, bedeutet, den eigenen Lebensstil zu überdenken. Durch das Corona-Virus wurden wir alle dazu gezwungen – ob gläubig oder nicht –, genau das zu tun. Man könnte den Lockdown demnach als grosse Fastenzeit bezeichnen – ein Besinnungshalt. Wie nachhaltig der sein wird, wird sich zeigen. Ich persönlich bin überzeugt, dass die Welt eine andere sein wird.
Inwiefern?
Ich hoffe auf mehr Nachdenklichkeit, auf eine neue Werte-Hierarchie. Ich hoffe, dass der Konsum und die Verfügbarkeit von Produkten rund um die Uhr keinen so hohen Stellenwert mehr haben werden. Aktuell stehen die Familie und die Nachbarschaft im Mittelpunkt. Und genau dafür steht die Kirche, für das gegenseitige Einstehen, für den Verzicht auf unwichtige Dinge, für den Focus auf das Wesentliche, für das Miteinander.
Ist das die Zeit der Kirche? Kann sie damit wieder auf ihr «Angebot» aufmerksam machen?
Das «Kerngeschäft» und die Botschaft der Kirche waren vor «Corona» die gleichen wie auch jetzt. Daran wird sich nichts ändern. Ich will nicht auf billige Art und Weise Kapital schlagen aus der Situation. Natürlich gibt es religiöse Führer, die von der Strafe Gottes sprechen oder von einer Apokalypse. Das empfinde ich als degoutant. Aber bin ich überzeugt, dass alles, was geschieht, was uns zugemutet, aber auch geschenkt wird, uns etwas sagen will. Gott will uns mit allem etwas sagen. Die Corona-Situation ist in diesem Sinn sicher einschneidend. Niemand kommt daran vorbei. Jeder muss sich damit beschäftigen. Gut möglich, dass sich die Gesellschaft als Ganze auf eine neue Wertehierarchie einlassen muss.
Stossen Sie als Geistlicher manchmal an Ihre Grenzen, weil sie keine Antworten parat haben oder keine Hilfestellung leisten können?
Es gibt immer wieder Situationen, in denen ich keine Antworten habe. Das mit den anderen auszuhalten und nicht wegzulaufen, ist dann wichtig. Es geht darum, den betroffenen Menschen beizustehen. Erwartet wird Ehrlichkeit. Die Religion hat nicht auf alles eine Antwort, aber sie kann einem helfen, mit offenen Fragen zu leben und zurechtzukommen.
Sie haben grundsätzlich eine hohe Verantwortung. Durch die Gestaltung ihrer Predigt und durch die Interpretation von Bibel-Passagen können Sie den Zuhörerinnen und Zuhörern auf den einen oder den anderen Weg führen.
Die Texte aus der Bibel sind vorgegeben. Aber natürlich liest man sie in der aktuellen Phase mit einem anderen Blickwinkel als noch vor ein paar Monaten. Evangelium bedeutet frohe Botschaft. Das heisst nicht, dass es immer eine fröhliche, aber stets eine frohe Botschaft ist – eine, die dem Leben dient. In den schweren Momenten suche ich folglich im Bibeltext das Wort, das nicht auch noch den Finger in die Wunde hält, sondern Hoffnung gibt. In Krisensituationen hat jedes Wort ein ganz anderes Gewicht.
Und in Krisensituationen suchen wir nach «Vaterfiguren», nach Stützen. Konnte auch die Kirche via Livestream eine solche Stütze sein?
Für uns war vollkommen klar: Der erste Livestream-Gottesdienstüberhaupt muss durch den Bischof gefeiert werden, er ist der oberste Hirt im Bistum St.Gallen. Und dieser Hirt sprach zu seinem Volk.
Gab es demnach vorher keine Live-Übertragung aus der Kirche?
Bei uns nicht, nein. Das Corona-Virus hat auch bei uns gewisse Prozesse beschleunigt. Was vorher nicht vorstellbar war, wurde plötzlich möglich.
Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».
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