logo

Gedenkanlass in St.Gallen

Kanton entschuldigt sich bei Betroffenen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen

Im Rahmen einer Gedenkfeier in St.Gallen entschuldigte sich am Samstag Regierungsrat Martin Klöti im Namen des Kantons St.Gallen und seiner Gemeinden bei den Betroffenen fürsorgerischer Zwangsmassahmen und Fremdplatzierungen für das erlittene Unrecht und Leid.

Die Ostschweiz am 21. September 2019

Im Kanton St.Gallen wurden wie in der übrigen Schweiz teilweise bis in die 1980er-Jahre Kinder, junge Menschen und Erwachsene mit aus heutiger Sicht nicht mehr nachvollziehbaren Begründungen von Amtes wegen in Heimen, Anstalten, oder bei Privaten platziert. Die Gründe waren vielfältig: von allgemein schwierigen Verhältnissen, meist in armutsbetroffenen Familien, bis hin zu Verhaltensweisen ausserhalb der geltenden Normvorstellungen. Regierungsrat Martin Klöti, Vorsteher des Departementes des Innern, betonte in seiner Rede an einem Gedenkanlass am Samstag in der Lokremise in St.Gallen, dass dabei Grundrechte verletzt worden seien. Vielen Menschen sei grosses Leid und Unrecht widerfahren. Die damit verbundenen seelischen Verletzungen prägten die Lebensläufe bis heute. Klöti rief auf, die Würde eines jeden Menschen zu respektieren. Denn die Achtung der Menschenwürde und Grundrechte sei zentral für einen demokratischen Staat, sagte Martin Klöti auch mit Blick auf gegenwärtige und zukünftige gesellschaftliche Debatten und staatliches Handeln. Schliesslich bat Regierungsrat Martin Klöti im Namen des Kantons St.Gallen und seiner Gemeinden bei den Betroffenen fürsorgerischer Zwangsmassahmen und Fremdplatzierungen um Entschuldigung für das erlittene Unrecht und Leid.

550fcf35-cd67-3ab2-24aa8cef146fe14d

Physische und psychische Gewalt

Rund 350 Personen nahmen am Gedenkanlass in St.Gallen teil. Wie viele davon Betroffene sind, bleibt schwierig abzuschätzen, weil aus datenschutzrechtlichen Gründen auch im Hinblick auf die Organisation der Veranstaltung keine entsprechenden Verzeichnisse erstellt worden sind und der Anlass öffentlich war. Betroffene wurden in der Organisation und Gestaltung des Anlasses sowie des Gedenkzeichens auf der Kreuzbleiche massgeblich einbezogen. Das Vorhaben ist Resultat einer Zusammenarbeit des Kantons mit der Vereinigung St.Galler Gemeindepräsidentinnen und Gemeindepräsidenten sowie mit der Stadt St.Gallen als Standortgemeinde des Gedenkzeichens.

550c923f-ddf6-814a-3ae9aff960f09e0f

Aus der Sicht von Betroffenen erinnerte der St.Galler Werner Fürer an seine Kindheit und Jugend im Kinderheim Riedernholz in St.Gallen sowie im Erziehungsheim Thurhof in Oberbüren. Diese Zeit sei geprägt gewesen von physischer und psychischer Gewalt, ausgeübt von Erzieherinnen und Erzieher. In seiner Rede knüpfte Fürer an den Text des Pink Floyd-Songs «Another Brick in the Wall» an und appellierte an die Anwesenden, Zeit und Geduld für die Kinder aufzubringen.

550cd17e-0763-4eed-ae7423b299783cec

Ausgehend von solchen Gedanken wurde auch die Idee entwickelt, das dauerhafte Zeichen der Erinnerung auf einem Spielplatz zu realisieren - und damit eine Verbindung zu den heutigen Kindern, Eltern sowie Erzieherinnen und Erziehern zu schaffen. Der dazu erstellte Gedenkbrunnen auf dem Spielplatz Kreuzbleiche lädt einerseits zum Spiel und zur Erfrischung ein. Andererseits werden insbesondere die erwachsenen Besucherinnen und Besucher dazu animiert, sich auf einer Internetseite ausführlich mit der Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen zu beschäftigen. Die Internetseite soll in den nächsten Jahren immer wieder um neue historische Erkenntnisse ergänzt werden.

550d4107-9f2e-3546-015eeb54aaf3ca2a

Ort der Vielfalt

Eingeweiht wurde der Brunnen von Werner Fürer, Regierungsrat Martin Klöti und der St.Galler Stadträtin Sonja Lüthi, Vorsteherin der Direktion Soziales und Sicherheit der Stadt St.Gallen. Sonja Lüthi wies auf die Bedeutung des Brunnes und des Ortes hin. Das Element Wasser stelle das Leben dar und der Brunnen stehe für die Unbeschwertheit und Zuversicht der Kinder, wenn sie diesen in Beschlag nehmen und damit spielen. Die Kreuzbleiche als Standort bilde ihrerseits an schönen Tagen die ganze Vielfalt St.Gallens ab; Menschen verschiedenen Alters und unterschiedlicher Herkunft begegnen sich hier in gegenseitiger Toleranz. Damit setzt das Gedenkzeichen ein positives Gegenbild zur Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Die Zentralität des Ortes und die vorbeiführenden Spazierwege könnten den Betroffenen einen Raum für eigene Reflexionen geben.

550d726e-b2c7-f224-d45571f339637da5

«Unverständlich und unverzeihlich»

Lukas Gschwend, Professor für Rechtsgeschichte an der Universität St.Gallen, wies in seiner Rede auf den langen Zeitraum bis zur Aufhebung der entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen in den Kantonen hin. «Dass die Schweiz die längst überkommene Versorgungspraxis der Kantone nicht abzuschaffen im Stande war, sondern nach dem Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention sieben lange Jahre brauchte, um ihre Gesetzgebung mit der Einführung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung anzupassen, ist schlichtweg unverständlich und unverzeihlich», sagte Gschwend, der als Mitglied der vom Bundesrat eingesetzten unabhängigen Expertenkommission auch über dessen Arbeit und Ergebnisse referierte.

550decb3-af5b-354c-b08bdcd7107b5515

Jakob Tanner, emeritierter Professor für Geschichte, erklärte in seinem Referat, dass die Realität der Fürsorgerischen Zwangsmassnahmen im Widerspruch zum Schweizer Selbstbild einer alten und stabilen demokratischen Tradition stehen. Eine besondere Frage sei, warum diese Missachtung der Grundrechte so lange angedauert habe. Feststellbar sei eine politische Enge einer patriarchalisch geprägten Mittelschicht, mit einem grossen Potenzial für Diskriminierungen, so Tanner. Die Zwangsmassnahmen seien schliesslich ein völlig kontraproduktives Instrumentarium zur Bekämpfung der Armut gewesen.

550eadbf-e609-1260-a7d6623d101e0491

Aufarbeitung geht weiter

Der Gedenkanlass und das Zeichen der Erinnerung sind nur zwei von mehreren Massnahmen des Kantons St.Gallen zu diesem Thema. Betroffene werden seit längerer Zeit vom Staatsarchiv und von der Stiftung Opferhilfe bei der Suche nach Akten zu ihrer Lebensgeschichte unterstützt. Entsprechende Dokumente und Hilfestellungen waren gefragt, um die Gesuche von Einzelpersonen um einen Solidaritätsbeitrag des Bundes einzureichen. Die Stiftung Opferhilfe hat bis heute rund 480 Betroffene beraten. 450 davon wurden darin unterstützt, ein Gesuch für einen Beitrag des Bundes einzureichen. Auch das Staatsarchiv war in über 350 Fällen beratend tätig. Der Kanton leistet ausserdem einen Beitrag von 900'000 Franken an den entsprechenden Fonds des Bundes. Im Weiteren laufen im Kanton St.Gallen Forschungsarbeiten zur historischen Untersuchung dieser Themenfelder sowie die Sicherung und Erschliessung von Quellen aus den Heiminstitutionen im Staatsarchiv.

550ee412-baca-f900-4e01162c0d7ac703 550f6d15-b54c-d797-198b18a5f35fa86a 550f3f4a-00bd-c153-a245536b336772f1 550f9778-d39b-b045-8be9d1cf08356bb1 550f127c-974b-abac-fb5e7c10cedea3d6 550da8e9-e13d-8fff-9a7cf87479e348b1 550e19ff-9b51-f2a6-793c646ea752f1d7

Einige Highlights

Uzwilerin mit begrenzter Lebenserwartung

Das Schicksal von Beatrice Weiss: «Ohne Selbstschutz kann die Menschheit richtig grässlich sein»

am 11. Mär 2024
Im Gespräch mit Martina Hingis

«…und das als Frau. Und man verdient auch noch Geld damit»

am 19. Jun 2022
Das grosse Gespräch

Bauernpräsident Ritter: «Es gibt sicher auch schöne Journalisten»

am 15. Jun 2024
Eine Analyse zur aktuellen Lage

Die Schweiz am Abgrund? Wie steigende Fixkosten das Haushaltbudget durcheinanderwirbeln

am 04. Apr 2024
DG: DG: Politik

«Die» Wirtschaft gibt es nicht

am 03. Sep 2024
Gastkommentar

Kein Asyl- und Bleiberecht für Kriminelle: Null-Toleranz-Strategie zur Sicherheit der Schweiz

am 18. Jul 2024
Gastkommentar

Falsche Berechnungen zu den AHV-Finanzen: Soll die Abstimmung zum Frauenrentenalter wiederholt werden?

am 15. Aug 2024
Gastkommentar

Grenze schützen – illegale Migration verhindern

am 17. Jul 2024
Sensibilisierung ja, aber…

Nach Entführungsversuchen in der Ostschweiz: Wie Facebook und Eltern die Polizeiarbeit erschweren können

am 05. Jul 2024
Pitbull vs. Malteser

Nach dem tödlichen Übergriff auf einen Pitbull in St.Gallen: Welche Folgen hat die Selbstjustiz?

am 26. Jun 2024
Politik mit Tarnkappe

Sie wollen die angebliche Unterwanderung der Gesellschaft in der Ostschweiz verhindern

am 24. Jun 2024
Paralympische Spiele in Paris Ende August

Para-Rollstuhlfahrerin Catherine Debrunner sagt: «Für ein reiches Land hinkt die Schweiz in vielen Bereichen noch weit hinterher»

am 24. Jun 2024
Politik extrem

Paradox: Mit Gewaltrhetorik für eine humanere Gesellschaft

am 10. Jun 2024
Das grosse Bundesratsinterview zur Schuldenbremse

«Rechtswidrig und teuer»: Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnt Parlament vor Verfassungsbruch

am 27. Mai 2024
Eindrucksvolle Ausbildung

Der Gossauer Nicola Damann würde als Gardist für den Papst sein Leben riskieren: «Unser Heiliger Vater schätzt unsere Arbeit sehr»

am 24. Mai 2024
Zahlen am Beispiel Thurgau

Asylchaos im Durchschnittskanton

am 29. Apr 2024
Interview mit dem St.Galler SP-Regierungsrat

Fredy Fässler: «Ja, ich trage einige Geheimnisse mit mir herum»

am 01. Mai 2024
Nach frühem Rücktritt: Wird man zur «lame duck»?

Exklusivinterview mit Regierungsrat Kölliker: «Der Krebs hat mir aufgezeigt, dass die Situation nicht gesund ist»

am 29. Feb 2024
Die Säntis-Vermarktung

Jakob Gülünay: Weshalb die Ostschweiz mehr zusammenarbeiten sollte und ob dereinst Massen von Chinesen auf dem Säntis sind

am 20. Apr 2024
Neues Buch «Nichts gegen eine Million»

Die Ostschweizerin ist einem perfiden Online-Betrug zum Opfer gefallen – und verlor dabei fast eine Million Franken

am 08. Apr 2024
Gastkommentar

Weltweite Zunahme der Christenverfolgung

am 29. Mär 2024
Aktionswoche bis 17. März

Michel Sutter war abhängig und kriminell: «Ich wollte ein netter Einbrecher sein und klaute nie aus Privathäusern»

am 12. Mär 2024
Teuerung und Armut

Familienvater in Geldnot: «Wir können einige Tage fasten, doch die Angst vor offenen Rechnungen ist am schlimmsten»

am 24. Feb 2024
Naomi Eigenmann

Sexueller Missbrauch: Wie diese Rheintalerin ihr Erlebtes verarbeitet und anderen Opfern helfen will

am 02. Dez 2023
Best of 2023 | Meine Person des Jahres

Die heilige Franziska?

am 26. Dez 2023
Treffen mit Publizist Konrad Hummler

«Das Verschwinden des ‘Nebelspalters’ wäre für einige Journalisten das Schönste, was passieren könnte»

am 14. Sep 2023
Neurofeedback-Therapeutin Anja Hussong

«Eine Hirnhälfte in den Händen zu halten, ist ein sehr besonderes Gefühl»

am 03. Nov 2023
Die 20-jährige Alina Granwehr

Die Spitze im Visier - Wird diese Tennisspielerin dereinst so erfolgreich wie Martina Hingis?

am 05. Okt 2023
Podcast mit Stephanie Stadelmann

«Es ging lange, bis ich das Lachen wieder gefunden habe»

am 22. Dez 2022
Playboy-Model Salomé Lüthy

«Mein Freund steht zu 100% hinter mir»

am 09. Nov 2022
Neue Formen des Zusammenlebens

Architektin Regula Geisser: «Der Mensch wäre eigentlich für Mehrfamilienhäuser geschaffen»

am 01. Jan 2024
Podcast mit Marco Schwinger

Der Kampf zurück ins Leben

am 14. Nov 2022
Hanspeter Krüsi im Podcast

«In meinem Beruf gibt es leider nicht viele freudige Ereignisse»

am 12. Okt 2022
Stölzle /  Brányik
Autor/in
Die Ostschweiz

«Die Ostschweiz» ist die grösste unabhängige Meinungsplattform der Kantone SG, TG, AR und AI mit monatlich rund 300'000 Leserinnen und Lesern. Die Publikation ging im April 2018 online und ist im Besitz der Ostschweizer Medien AG, ein Tochterunternehmen der Galledia Regionalmedien.

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.