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Networkingtag 10. September 2021

«Leider ist das Bremsen nicht erlaubt»

Wie viel Erde braucht der Mensch? Unter diesem Titel wird der diesjährige Networkingtag abgehalten. Einer der Referenten ist Henrik Nordborg – und er zeichnet für die Zukunft ein relativ düsteres Bild.

Manuela Bruhin am 26. Juli 2021

Sie betreiben den Blog «Den Kindern einen Grund geben, uns nicht zu hassen». Was müsste getan werden, damit sie uns irgendwann eben nicht hassen?

Das Problem ist doch, dass wir unsere Gesellschaft gegen die Wand fahren und dabei immer noch beschleunigen. Aus ideologischen Gründen haben wir uns entschieden, dass das Bremsen nicht erlaubt ist. Wir wissen seit 40 Jahren, dass wir mit fossilen Brennstoffen aufhören müssen. Leider sind wir nicht bereit, dies zu tun. Eigentlich haben Klimaschutz und Nachhaltigkeit nichts mit Wissenschaft und Technik zu tun. Selbstverständlich können wir die Zukunft der eigenen Kinder zerstören. Ob wir dies tun wollen, ist eine ethisch-moralische Frage. Um den Respekt unserer Kinder zu verdienen, müssen wir einfach das Richtige tun.

Wir leben auf grossem Fuss. Das Thema Klimawandel ist Ihr täglicher Job. Können Sie da überhaupt noch «unbeschwert» sein? Auch einmal in die Ferien fliegen? Oder ist das für Sie unvorstellbar?

In die Ferien zu fliegen, ist für mich in der Tat inzwischen unvorstellbar. Ich hatte sowieso immer eine etwas andere Einstellung zum Tourismus: Ich reise ungern irgendwo hin, wo die Leute mich hassen und nur nett sind, weil sie damit Geld verdienen. Somit verbringe ich die Ferien lieber mit Freunden und Verwandten in Schweden, die sich tatsächlich freuen, mich zu sehen. Unbeschwert zu sein, wird in der Tat immer schwieriger.

Die Fakten kennen wir eigentlich alle, nur an der Umsetzung hapert es. Weshalb tun wir uns so schwer damit?

Es ist immer die gleiche Geschichte: Die Reichen und Mächtigen sind durch das bestehende System reich und mächtig geworden. In einer gerechteren, friedlicheren und genügsameren Gesellschaft würde das Fundament ihrer Macht wegbrechen. Somit hoffen sie bis ins Letzte auf ein Wunder. Naomi Klein behauptet in ihrem Buch «Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima», dass die Ölindustrie den Klimawandel besser als alle anderen verstanden hat. Sie hat begriffen, dass wirkungsvoller Klimaschutz den Todesstoss ihrer Branche bedeutet. Wieso sollte sie da mitmachen? Nur so ist zu erklären, dass die gleichen Regierungen, die von Klimaschutz reden, gleichzeitig die Ölfirmen mit hunderten von Milliarden fördern. Wir stehen vor einem kompletten Umbau der ganzen Gesellschaft. Bei solchen Veränderungen gibt es immer Gewinner und Verlierer. Letztere tun alles, um die Veränderung zu blockieren.

Sie setzen sich für ein entschiedenes Handeln ein, befürworten die Erneuerbaren Energien. Was muss getan werden, um den Klimawandel überhaupt noch aufhalten zu können?

Wir müssen die Förderung fossiler Brennstoffe weltweit stoppen. Dies ist nur durch eine globale CO2-Abgabe möglich. Da sich ärmere Länder dies nicht leisten können, muss eine solche Abgabe mit einem globalen Umverteilungsmechanismus kombiniert werden. Anders gesagt: Drittweltländer müssen auf erneuerbare Energien umstellen und die Umstellung muss von den reichen Ländern finanziert werden. Dafür habe ich einen fertigen Plan.  Die Abgabe muss hoch genug sein, damit der CO2-Ausstoss signifikant zurückgeht. Wahrscheinlich wird dies eine globale Rezession auslösen, die Jahrzehnte andauern wird. Es geht darum, die richtigen Prioritäten zu setzen. Seit 30 Jahren gehen wir davon aus, dass die Wirtschaft wachsen muss und betreiben nebenbei etwas Klimaschutz. Künftig muss der Klimaschutz erste Priorität haben. Wenn die Wirtschaft gleichzeitig wachsen kann, wäre dies grossartig. Sonst müssen wir uns in einer schrumpfenden Wirtschaft zurechtfinden.

Sie sagen der Jugend, dass sie laut und stark auftreten sollen. Sollte die Welt also mehr «Gretas» haben?

Unbedingt. Die Wahrheit erfährt man anscheinend nur von Kindern und Betrunkenen. Alle andere sind zu angepasst oder zu feige, um die Wahrheit zu sagen. Es wäre natürlich schön, wenn mehr Menschen mit Rang und Namen den Mut hätten, etwas zu tun. Persönlich lasse ich mich von Goethe inspirieren: «Was eben wahr ist allerorten, das sag ich mit ungescheuten Worten».

Die Jugend geht zwar auf die Strasse, in Ihrem Blog erklären Sie aber auch, dass in den Studiengängen das Interesse an diesen Themen nicht sonderlich gross ist. Weshalb?

Es ist allgemein erschreckend, aber nicht wirklich erstaunlich, wie wenig Ahnung die Menschen haben. Vor allem die junge Generation wird von sozialen Netzwerken und Influencern dumm gehalten, genau wie Aldus Huxley (Schöne neue Welt) und Neil Postman (Wir amüsieren uns zu Tode) vorhergesagt haben. Ein einfaches Beispiel: Es ist völlig unklar, wie die Weltbevölkerung in 30 Jahren ernährt werden kann (Ist die Zukunft mehrheitsfähig? – Henrik Nordborg). Hier geht es nicht um die ferne Zukunft, da sogar ich in 30 Jahren vielleicht noch leben werde. Die jungen Menschen, die sich heute für ein Studium interessieren, werden im Jahr 2050 auf dem Höhepunkt der beruflichen Karriere stehen. Ob sie was zu essen haben werden, ist vollkommen unklar. Wieso redet niemand davon? Ich bin kein Pessimist, sondern ein unverbesserlicher Optimist. Wir können die Probleme der Menschheit lösen, aber nicht, indem wir sie ignorieren. Wir befinden uns in einem Notstand und sollten dementsprechend handeln. Leider sehen es die meisten Politiker und Politikerinnen als ihre Hauptaufgabe, nichts zu verändern und ihre Wähler «in einen Schlafsack aus schönen Worten» zu packen (Zitat R. D. Precht). So kann es einfach nicht weitergehen.

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Autor/in
Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

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