Während Jahren beklagte sich der Presserat, die selbsternannte «Selbstregulierungsinstanz» der Medienbranche, über eine angebliche «Beschwerdeflut», die er kaum noch zu «kanalisieren» vermöge. Ist der Druck einmal weg, geht's trotzdem selten richtig vorwärts, findet Autor Thomas Baumann.
Wer sich kurz vor Weihnachten auf der Webseite des Presserats umschaute, erblickte gähnende Leere: Gerade einmal kümmerliche 30 Stellungnahmen fand man dort für das Jahr 2023. Der Presserat war klar auf Kurs, den bisherigen Minusrekord von 44 veröffentlichten Stellungnahmen aus dem Jahr 2014 noch einmal deutlich zu unterbieten.
Deswegen am 18. Dezember unsere Anfrage an den Presserat, ob ihm etwa die Lust am Arbeiten abhanden gekommen sei. Antwort darauf gab's keine, dafür krempelte der Presserat für einmal so richtig die Ärmel hoch. Wer an Neujahr dieselbe Webseite besuchte, kam aus dem Staunen nicht mehr heraus: In den letzten zehn Tagen des alten Jahres kamen sage und schreibe nochmals 19 veröffentlichte Stellungnahmen zu den vorherigen 30 hinzu.
Weihnächtliches Wunder
Zufall? Eher nicht, sofern man an Gesetzmässigkeiten glaubt. In keinem der letzten zehn Jahre kam es zu einer derartigen Häufung publizierter Stellungnahmen am Jahresende wie heuer, wie eine Recherche auf www.presseportal.ch zutage förderte. Weder in Jahren mit besonders hoher «Beschwerdeflut», geschweige denn in eher durchschnittlichen Jahren wie 2023. Im Dezember 2016 beispielsweise veröffentlichte der Presserat gerade einmal eine einzige Stellungnahme.
Weihnachtszeit ist die Zeit der Wunder, doch beim Presserat hatte das weihnächtliche «Wunder» einen leichten Schönheitsfehler: In der Hitze des Gefechts ging bei den Stellungnahmen 38/2023 und 39/2023 schlicht der Text vergessen. Und so schweigen uns diese vermeintlichen «Stellungnahmen» wortlos an. Oder transportieren vielmehr die neudeutsche Aufforderung: «Contemplate the template.» So war es letztlich wohl doch die Furcht vor einem beissenden Medienartikel, welche den Presserat in letzter Sekunde aus seiner üblichen Lethargie heraus- und zu einer teilweise missglückten Rettungsaktion hinriss.
Ein Fall für den Konkursrichter
Trotz dem gerade noch knapp abgewendeten Minusrekord wird der Presserat nie zum «Stachanow» unter den Medienbeschwerdestellen werden: Schaffte es doch die Ombudsstelle der SRG unter den beiden unermüdlichen Ombudspersonen Esther Girsberger und Kurt Schöbi, bei ungefähr ähnlichem Personaletat wie der Presserat, im Jahr 2023 sage und schreibe über 650 Stellungnahmen zu verfassen. Mehr als zehnmal so viele!
Wären die Ombudsstelle der SRG und der Presserat Firmen in einem freien Markt, dann wäre letztere entweder schon lange bankrott gegangen oder von ersterer übernommen worden. Kein Wunder also, hat der Presserat das Betteln um Geld schon fast zu seinem Kerngeschäft erhoben. Wer derart ineffizient ist, dem bleibt kaum eine andere Möglichkeit. Allerdings wäre eine Marktbereinigung in diesem Fall volkswirtschaftlich wohl die deutlich effizientere Lösung.
Starke Ombudsfrau
Und noch etliches mehr unterscheidet die beiden Beschwerdestellen: Esther Girsberger ist als Dr. iur. und ehemalige Chefredaktorin des «Tages-Anzeigers» ein ausgewiesenes fachliches Schwergewicht, während die Geschäftsführerin des Presserats noch kaum irgendwo erinnerungswürdige Spuren hinterlassen hat. Es sei denn im Sande Afrikas: Vor ihrem Antritt beim Presserat war Juristin Ursina Wey während fünf Jahren als «Beraterin für Demokratieförderung» («Medienwoche») und in ähnlich weltbewegenden Funktionen in Togo tätig.
Erfordern es die Umstände, trifft sich die nimmermüde und energetische Dr. Girsberger auch schon einmal mit einem etwas aufsässigen ‹Beanstander› (Beschwerden heissen bei der SRG «Beanstandungen») auf einen Kaffee in der Zürcher Innenstadt zwecks bilateraler Bereinigung der Angelegenheit: keine Spur von Ängstlichkeit, dafür ansteckende Freude an der intellektuellen Auseinandersetzung.
Paranoia beim Presserat
Ganz anders lic. iur. Ursina Wey vom Presserat: Vor dem Zivilgericht in Freiburg liess sie im letzten Herbst durch einen vom Presserat mandatierten Anwalt ausrichten, dass man in der Geschäftsstelle des Presserats Angst vor einem möglichen Angriff durch einen renitenten Beschwerdeführer habe. Ob dies bloss eine Notlüge war, oder ob diese Furcht tatsächlich existiert, lässt sich aus der Ferne nicht beurteilen. Zumindest seine Büroadresse entfernte der Presserat vorsorglich von seiner Webseite.
Der vom Presserat bestellte Anwalt jedenfalls gab vor Gericht selber seiner Verblüffung Ausdruck, dass es sich bei dem angeblich renitenten Beschwerdeführer in Tat und Wahrheit um einen ganz umgänglichen Menschen zu handeln scheine. Bei einem persönlichen Treffen hätte dies lic. iur. Wey wohl selber auch feststellen können – und dem chronisch klammen Presserat damit obendrein eine vierstellige Summe Geld gespart.
Das Pannendreieck bleibt draussen
Ein frappierender Mangel an Menschenkenntnis und erschreckende Ineffizienz: Beim Presserat täte eine Infusion gesunden Menschenverstands mehr als Not, anstatt immer mehr vom Gleichen. Neben einer Präsidentin von der linken WoZ leistet er sich neuerdings eine «wissenschaftliche Mitarbeiterin» – von der fast ebenso linken «Republik». Ob «wissenschaftlicher Sozialismus» beim Presserat ebenfalls zum Pflichtenheft gehört?
Immerhin: Die letzten paar Tage des abgelaufenen Jahres machen Mut. Endlich wagte sich der Presserat einmal vom Pannenstreifen auf die Überholspur – auch wenn er das Pannendreieck, wie gesehen, noch nicht ganz wegräumen kann. Bis zum Klassenbesten bleibt es allerdings noch ein langer, langer Weg.
Hinweis: Die in diesem Text geäusserten Meinungen und Ansichten sind jene des Autors und spiegeln nicht unbedingt die Haltung oder Position der Redaktion.
(KI-Symbolbild: Bing Image Creator)
Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.
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