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Zukunftsvisionen oder Selbsttäuschung

Manifestieren: Wie viel Einfluss haben unsere Gedanken? Die St.Galler Organisationsberaterin Aline Fischbacher über Möglichkeiten und Gefahren

Ist Manifestieren das neue Beten? Ist ein besserer Job wirklich nur ein Gedanke weit entfernt? Ein Gespräch mit der St.Galler Coachin Aline Fischbacher über ständige Vergleiche, eigene Entwicklungsmöglichkeiten – und was Zukunftsbilder damit zu tun haben.

Manuela Bruhin am 05. September 2024

Wir wissen es eigentlich alle, und dennoch tun wir es ständig: Wer sich mit anderen vergleicht, zieht immer den Kürzeren. Immer. Schliesslich gibt es immer jemanden, der mehr verdient, das teurere Auto fährt, das grössere Haus hat, hübscher, jünger, schlauer oder alles zusammen ist. Die Sozialen Medien tun ihr Übriges, dass der ständige Konkurrenzkampf aufrechterhalten wird. Kein Wunder, das entsprechende Studien bestätigen, was eigentlich längst auf der Hand liegt: Social Media kann unglücklich und sogar krank machen.

Nur: Muss das wirklich sein? Müssen wir uns mit anderen vergleichen, wenn doch jeder für sein Glück selber verantwortlich ist? Wir unsere Wünsche nur manifestieren müssen, und schon sind wir in deren Besitz? Ist also der neue Job, das schnellere Auto oder die neue Liebe wirklich nur einen Wunschgedanken entfernt?

Fast scheint es so, als Manifestieren das neue Beten ist. «Habe die Vision deines Wunsches nur ganz deutlich vor Augen – und es wird irgendwann zur Realität» - So oder so ähnlich wird es uns eingetrichtert, Manifestieren gehört für viele dazu wie das Frühstück als Start in den Tag. In Zeiten, in welchen alles nur einen «Klick» weit entfernt ist: Reicht es aus, sich etwas bewusst vorzustellen – um es anschliessend zu bekommen?

Aline Fischbacher arbeitet seit vielen Jahren im Bereich Coaching, Supervision und Organisationsberatung in St.Gallen. Sie kennt sich aus, wenn es um die persönliche Lebensentwicklung, berufliche Veränderungen oder Prozessoptimierungen im Arbeitsalltag geht.

Aline Fischbacher, Sie haben früher als Polizistin gearbeitet. In wie weit hilft Ihnen das bei Ihrer jetzigen Tätigkeit?

In sehr vielen Bereichen. Ich begegnete als Polizistin ganz unterschiedlichen Menschen – alte, junge, Leute in Not. Es gab viele unvorhersehbare Situationen, in denen grosse Flexibilität verlangt wurde. Diese Erfahrungen waren sehr wertvoll und kommen auch heute immer wieder zum Tragen. In meinem jetzigen Job kann ich zwar Pläne machen – dann kommt es aber dennoch anders, als man denkt – und man muss und darf sich auf etwas Neues einstellen. Das ist einerseits eine grosse Herausforderung. Andererseits macht es meinen Beruf auch extrem spannend.

Womit kommen die Menschen zu Ihnen?

Bei mir gleicht kein Arbeitstag dem anderen. So unterschiedlich die Menschen sind, so sind es auch ihre Anliegen. Führungskräfte möchten sich in ihrer Position reflektieren, ihre Kompetenzen und ihr Führungshandeln stärken, oder sie möchten wissen, wie sie ihre Mitarbeitenden besser miteinbeziehen können. Sie wollen ihre Kommunikation weiterentwickeln, es gibt Veränderungen im Team, die strategisch vorbereitet werden sollen. Dann gibt es auch Einzelcoachings, in welchen die Persönlichkeitsentwicklung oder eine Standortbestimmung gefragt sind. Ich begleite Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen.

Was bedeutet für Sie «Manifestieren»?

Ich bin kein «Manifest-Coach» und eher realistisch unterwegs. Für mich ist manifestieren wichtig, um eine persönliche Standortbestimmung zu erhalten. Was kann eine Person gut? Wo will sie hin? Wie soll der gewünschte Arbeitsalltag aussehen? Im Laufe der Coaching-Gespräche merkt die Person, wohin es gehen soll, wo die Interessen, die Stärken liegen. Mit diesen Erkenntnissen kann sie sich dann bewusster verhalten und/oder das Umfeld bewusster miteinbeziehen. Daneben gibt es noch weitere Punkte, wie beispielsweise Visionen von den Organisationen selbst oder Strategieprozesse, die manifestiert werden können. Das gestaltete Zielbild soll dabei für die jeweilige Organisation, das Team oder die Person attraktiv sein.

Wie wichtig sind denn solche Zukunftsbilder?

Visionen sind extrem wichtig, weil sie uns inspirieren und motivieren. Sie geben uns Kraft und eine gewisse Richtung vor. Jedoch ändert sich die Gesellschaft sowie die Arbeitswelt. Man entwickelt sich persönlich weiter, die Lebenssituationen – beruflich wie privat – kann sich grundlegend verändern. Somit ist es sehr wichtig, von Zeit zu Zeit innezuhalten, zu überprüfen und zu reflektieren, ob das persönliche Ziel oder die Vision überhaupt noch passend und stimmig ist. Man verändert sich als Person, eignet sich Neues an, lernt dazu. Es gibt neue Inspirationen durchs Umfeld, andere Ausbildungen und Perspektiven, man lernt weitere Lebensentwürfe kennen, revidiert vielleicht auch mal seine eigene Meinung.

Vielleicht ist der «alte» Wunsch also gar nicht mehr so wünschenswert? Was dann?

Wenn man merkt, dass man an etwas «Altem» festhält, aufgrund gesellschaftlicher Erwünschtheit, einer alten Lebenssituation oder ähnlichem, dann darf und soll man loslassen oder sich mit einem neuen attraktiven Zukunftsbild auseinandersetzen. Es wäre kontraproduktiv oder unter Umständen sogar gesundheitlich schädlich, sich an etwas vehement festzukrallen, was einem nicht mehr entspricht.

Arbeiten Sie mit sogenannten Vision-Boards?

Ich mache oft Zukunftsbilder: Wo sehen sich Menschen in fünf Jahren? Wie soll die Abteilung aussehen, wie der Arbeitsplatz? Die Zeichnungen helfen oftmals weiter, weil sie konkret werden. Es hilft, die Gedanken zu ordnen. Die Bilder bleiben im Kopf besser verankert.

Neue Inspiration wird ja häufig aus den Sozialen Medien geholt. Wie haben sich die Menschen dadurch verändert?

Heutzutage geht es schon häufig ums Präsentieren. Dabei ist es wichtig, dass man auch kritisch hinterfragt, sich nicht blenden lässt oder sich ständig vergleicht. Die Frage stellt sich ja immer: Wie nutze ich Instagram, LinkedIn oder Tiktok ? Nehme ich es ab und an zu Inspirationszwecken oder kann ich mich inzwischen nur noch schwer davon lösen und zieht es mich runter? Ich kenne Menschen, die sich bewusst von Instagram abgemeldet haben, weil sie merken: Es tut mir nicht gut, erzeugt zu viel Druck. Und es geht ihnen anschliessend besser. Es gibt viele Spannungsfelder, und wir müssen alle zuerst herausfinden, wie wir damit individuell bestmöglich umgehen. Wir sollten uns auf das Bewusste reduzieren, und wieder wegkommen von der häufigen Konsumhaltung.

Was passiert denn mit den Leuten, die sich ständig vergleichen?

Die Forschung hat aufgezeigt, dass Unzufriedenheit entsteht, wenn eine Diskrepanz zwischen der Realität und den Wünschen besteht, sprich zwischen Haben und Wollen. Was ich beruflich feststelle, ist, dass dies körperliche Folgen haben kann: Es führt zu negativem Stress, Druck, Schlafproblemen und Niedergeschlagenheit. Wir sollten wieder vermehrt auf unsere eigenen Stärken achten, statt uns nur zu vergleichen. Wir müssen keine Kopie von irgendjemandem sein, sondern uns selbst und vermehrt eine positive Haltung einnehmen, damit es uns besser geht.

Ist Manifestieren das neue Beten, was denken Sie?

Es kann den Menschen Orientierung geben und es hilft dabei, Klarheit zu gewinnen, indem man sich mit sich selbst auseinandersetzt.

Das durch Manifestieren unser Glück quasi auf dem Silbertablet präsentiert wird, wird wohl also eher nicht eintreffen?

(Lacht). Es ist wichtig, dass wir zu uns zurückkehren. Was will ich? Wie kann ich dahin kommen? Ich finde, in diesen Bereichen hat die Wissenschaftlerin Gabriele Oettingen erstrebenswerte Ansätze wiedergegeben. Lange ging man davon aus, wir müssten unsere Ziele nur mit höchster Konzentration angehen und sich positive Zielzustände vorstellen, dann würden sich bald die Ergebnisse einstellen – so wurde es uns eingetrichtert. Gabriele Oettingen zeigt uns aber auf, dass diese Gleichung nicht aufgeht. Ihre Untersuchungen zeigen: Wenn die Menschen nicht nur positiv denken, sondern auch allfällige Probleme und Hindernisse einplanen, gelingt es ihnen besser, ihre Ziele zu erreichen. Unterstützend in diesem Prozess und generell für mehr Zufriedenheit in seinem Leben ist das Erleben von Positiven Emotionen. Die «Broaden-and-build-Theorie von Barbara Fredrickson, ebenfalls ein Ansatz aus der Positiven Psychologie, belegte wissenschaftlich die positiven Effekte von Positiven Emotionen.

Und zwar?

Wenn es uns also gut geht, verhalten wir uns automatisch auch anders, sind kontaktfreudiger, führen bessere Beziehungen, haben ein besseres Netzwerk. Daraus erhalten wir wiederum vielleicht einen besseren Job, lernen einen neuen Partner kennen. Wenn wir also unser Verhalten ändern, statt immer nur abzuwarten und den anderen beim Leben zuzusehen, bewirken wir häufig etwas Gutes.

Kann das auch einen gewissen Druck erzeugen? Nicht jeder kann vielleicht gerade gut drauf sein. Man weiss jedoch, man sollte eigentlich.

Da sprechen Sie ein Tabu-Thema an. Wir zeigen es ja alle auf Instagram oder sonstigen Plattformen: Alles ist super, es läuft gut im Job, in der Familie, mit Freunden. Man muss quasi immer gut drauf sein. Das ist aber bei niemandem immer so. Man ist vielleicht gerade krank, psychisch angeschlagen oder hat einfach einen schlechten Tag. Dann sehe ich ständig nur glückliche Menschen – das kann Druck auslösen. Und ganz ehrlich: Nicht jeder Wunsch lässt sich erfüllen. Bei einem Menschen, der trotz Arbeit an der Armutsgrenze lebt , wäre es vermessen, zu sagen: Stell dir ein Leben als Millionär vor, und du wirst es auch.

Wie kann man dem Druck entgegenwirken?

Da gibt es leider kein Patentrezept. Jeder muss ehrlich zu sich selber sein und das tun, was einem gut tut. Bei dem einen ist es vielleicht ein Spaziergang im Wald, beim anderen ein Gespräch mit einer Freundin. Manchmal sind es doch gerade die kleinen Dinge, die die helfen und zu mehr Zufriedenheit beitragen.

(Bild: Depositphotos/pd)

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Autor/in
Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

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