Darf man für einen guten Zweck flunkern? Behörden, Wissenschaft und Medien tun es zurzeit besonders häufig. Und berufen sich auf das moralisch Höherwertige ihres Tuns. Das untergräbt das Vertrauen in unsere Institutionen. Das ist gefährlicher als jedes Virus.
Was passiert, wenn sich die Zahl der täglichen Corona-Infektionen von über 4000 auf 2000 halbiert? Sie bleibt «auf hohem Niveau stabil». Während Klein Hansli für eine solche Aussage im Rechnen ein «ungenügend» erhielte, sind die Medien anscheinend mit derlei unsinnigen Behauptungen von Behörden und ihrer wissenschaftlichen Berater einverstanden. Kritik jedenfalls ist in der überbordenden Corona-Berichterstattung unserer Leitmedien keine zu sehen.
Alle drei – Politiker, Wissenschafter und Journalisten – haben ihre je eigenen Motive. Die Politiker rechtfertigen damit die rigiden, auf die Dauer immer weniger erträglichen Einschränkungen, die sie uns auferlegen. Um das Murren in der Bevölkerung präventiv zum Schweigen zu bringen, dramatisieren sie die Lage. Dazu ist jede neue Mutation des Virus recht. Das Motiv der Politiker heisst: Legitimation wackliger Entscheidungen.
Die Wissenschafter, welche die Politik zu beraten haben, sehen in der aktuellen medialen Aufmerksamkeit die Möglichkeit, ihre Tätigkeit endlich einmal ins Scheinwerferlicht zu rücken. Endlich werden die epidemiologischen, virologischen, bevölkerungsstatistischen Modellrechnungen öffentlich wahrgenommen, auch wenn sie nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit abbilden. Und als Prognosen ja schwer widerlegt werden können. Ich vergesse nie die Aussage eines Freundes, der damals an der ETH über Waldökologie forschte, aus der hohen Zeit des Waldsterbens: «Es war noch nie so leicht, Geld für unsere Projekte zu bekommen.» Dass der Wald dann doch nicht starb: Was soll’s? Das unausgesprochene Motiv der Wissenschafter, die sich ungeniert mit dramatischen Befunden exponieren, ist Reputation und damit verbunden die Möglichkeit, an mehr Forschungsgelder und Karrieremöglichkeiten zu kommen.
Die Journalisten, von denen sich einige als wahre Gesundheits-Jakobiner gebärden («Warum nicht noch schärfere Massnahmen, Herr Bundesrat?»), ernten mit alarmistischen Schlagzeilen jenes Kapital, das jedes Medium so dringend braucht: Aufmerksamkeit. Aber müssen sie deshalb alle Flunkereien, Verwedelungen und Beschönigungen der täglichen Corona-Briefings mitmachen?
Es geht ja nicht allein um die gegenwärtige Pandemie. Für einen guten Zweck arrangiert so mancher Journalist, manches Medium die Wirklichkeit gerne ein bisschen zurecht: Warum zum Beispiel sehen wir in den Testberichten der in den Medien zurzeit so gehypten E-Autos kaum je das Gesamtgewicht des Vehikels? Weil das lesende Publikum wohl abgeschreckt würde, wenn es erführe, dass ein solches E-Mobil der Mittelklasse über zwei Tonnen wiegt – Hunderte von Kilos mehr als ein Auto mit herkömmlichem Antrieb. Was das allein für die Verkehrssicherheit bedeutet, wenn ein solcher Trumm plötzlich abgebremst werden muss?
Die Rechtfertigung für dieses befremdliche Tun hat einen Namen: es geht um das moralisch Bessere, Höherwertige, für das wir Opfer bringen sollen. In der Verhaltensökonomie nennt man das Nudging – der Mensch soll zum richtigen Verhalten «gestupst» werden. Bei den Medien nennt sich diese Manipulation des Publikums neuerdings «Framing» - die Wirklichkeit soll in einem Rahmen dargestellt werden, der den Betrachter zu einem besseren Menschen machen soll. Und deshalb jene Fakten, die nicht in diesen Rahmen passen, entweder gar nicht erwähnt oder sie doch wenigstens moralisch gleich disqualifiziert. Hirngespinste? Nein, die ARD hat sich zu diesem Zweck einen Framing-Leitfaden von 89 Seiten bestellt, in dem vorexerziert wird, wie man mit unliebsamen Fakten umgeht: Der Journalist muss sich nur deren moralische Minderwertigkeit vergegenwärtigen – und sie, versteht sich, dem Publikum entsprechend vermitteln.
Das alles mag eine Zeitlang funktionieren. Bis der Bürger und Medienkonsument merkt, dass er nicht ehrlich informiert, sondern im Namen eines angeblich höheren Zwecks manipuliert wird. Dass er nicht für voll genommen, sondern als halbwertiger Untertan behandelt wird. Sobald er dies merkt, verliert er nicht nur den Glauben an die Schrecken der Pandemie und die Kompetenz derer, die sie bekämpfen. Das ginge ja noch. Aber er verliert darüber hinaus das Vertrauen in die Institutionen, die sie repräsentieren: den Staat und seine Behörden. Die Wissenschaft. Die Medien. Nicht nur bis zum Ende der Pandemie.
Wir wagen hier auch eine Prognose: Dieser Moment, in dem dieses Vertrauen verlorengeht, ist sehr, sehr nahe. Es kommt der Moment der tödlichen Mutation: vom Vertrauen zum Misstrauen. Der R-Wert liegt womöglich schon weit über 1.
Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.
1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.
Geschieden; drei wunderbare Töchter.
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