logo

Höpli zum Freitag

Manipulieren für den guten Zweck? Das geht nicht mehr lange gut

Darf man für einen guten Zweck flunkern? Behörden, Wissenschaft und Medien tun es zurzeit besonders häufig. Und berufen sich auf das moralisch Höherwertige ihres Tuns. Das untergräbt das Vertrauen in unsere Institutionen. Das ist gefährlicher als jedes Virus.

Gottlieb F. Höpli am 29. Januar 2021

Was passiert, wenn sich die Zahl der täglichen Corona-Infektionen von über 4000 auf 2000 halbiert? Sie bleibt «auf hohem Niveau stabil». Während Klein Hansli für eine solche Aussage im Rechnen ein «ungenügend» erhielte, sind die Medien anscheinend mit derlei unsinnigen Behauptungen von Behörden und ihrer wissenschaftlichen Berater einverstanden. Kritik jedenfalls ist in der überbordenden Corona-Berichterstattung unserer Leitmedien keine zu sehen.

Alle drei – Politiker, Wissenschafter und Journalisten – haben ihre je eigenen Motive. Die Politiker rechtfertigen damit die rigiden, auf die Dauer immer weniger erträglichen Einschränkungen, die sie uns auferlegen. Um das Murren in der Bevölkerung präventiv zum Schweigen zu bringen, dramatisieren sie die Lage. Dazu ist jede neue Mutation des Virus recht. Das Motiv der Politiker heisst: Legitimation wackliger Entscheidungen.

Die Wissenschafter, welche die Politik zu beraten haben, sehen in der aktuellen medialen Aufmerksamkeit die Möglichkeit, ihre Tätigkeit endlich einmal ins Scheinwerferlicht zu rücken. Endlich werden die epidemiologischen, virologischen, bevölkerungsstatistischen Modellrechnungen öffentlich wahrgenommen, auch wenn sie nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit abbilden. Und als Prognosen ja schwer widerlegt werden können. Ich vergesse nie die Aussage eines Freundes, der damals an der ETH über Waldökologie forschte, aus der hohen Zeit des Waldsterbens: «Es war noch nie so leicht, Geld für unsere Projekte zu bekommen.» Dass der Wald dann doch nicht starb: Was soll’s? Das unausgesprochene Motiv der Wissenschafter, die sich ungeniert mit dramatischen Befunden exponieren, ist Reputation und damit verbunden die Möglichkeit, an mehr Forschungsgelder und Karrieremöglichkeiten zu kommen.

Die Journalisten, von denen sich einige als wahre Gesundheits-Jakobiner gebärden («Warum nicht noch schärfere Massnahmen, Herr Bundesrat?»), ernten mit alarmistischen Schlagzeilen jenes Kapital, das jedes Medium so dringend braucht: Aufmerksamkeit. Aber müssen sie deshalb alle Flunkereien, Verwedelungen und Beschönigungen der täglichen Corona-Briefings mitmachen?

Es geht ja nicht allein um die gegenwärtige Pandemie. Für einen guten Zweck arrangiert so mancher Journalist, manches Medium die Wirklichkeit gerne ein bisschen zurecht: Warum zum Beispiel sehen wir in den Testberichten der in den Medien zurzeit so gehypten E-Autos kaum je das Gesamtgewicht des Vehikels? Weil das lesende Publikum wohl abgeschreckt würde, wenn es erführe, dass ein solches E-Mobil der Mittelklasse über zwei Tonnen wiegt – Hunderte von Kilos mehr als ein Auto mit herkömmlichem Antrieb. Was das allein für die Verkehrssicherheit bedeutet, wenn ein solcher Trumm plötzlich abgebremst werden muss?

Die Rechtfertigung für dieses befremdliche Tun hat einen Namen: es geht um das moralisch Bessere, Höherwertige, für das wir Opfer bringen sollen. In der Verhaltensökonomie nennt man das Nudging – der Mensch soll zum richtigen Verhalten «gestupst» werden. Bei den Medien nennt sich diese Manipulation des Publikums neuerdings «Framing» - die Wirklichkeit soll in einem Rahmen dargestellt werden, der den Betrachter zu einem besseren Menschen machen soll. Und deshalb jene Fakten, die nicht in diesen Rahmen passen, entweder gar nicht erwähnt oder sie doch wenigstens moralisch gleich disqualifiziert. Hirngespinste? Nein, die ARD hat sich zu diesem Zweck einen Framing-Leitfaden von 89 Seiten bestellt, in dem vorexerziert wird, wie man mit unliebsamen Fakten umgeht: Der Journalist muss sich nur deren moralische Minderwertigkeit vergegenwärtigen – und sie, versteht sich, dem Publikum entsprechend vermitteln.

Das alles mag eine Zeitlang funktionieren. Bis der Bürger und Medienkonsument merkt, dass er nicht ehrlich informiert, sondern im Namen eines angeblich höheren Zwecks manipuliert wird. Dass er nicht für voll genommen, sondern als halbwertiger Untertan behandelt wird. Sobald er dies merkt, verliert er nicht nur den Glauben an die Schrecken der Pandemie und die Kompetenz derer, die sie bekämpfen. Das ginge ja noch. Aber er verliert darüber hinaus das Vertrauen in die Institutionen, die sie repräsentieren: den Staat und seine Behörden. Die Wissenschaft. Die Medien. Nicht nur bis zum Ende der Pandemie.

Wir wagen hier auch eine Prognose: Dieser Moment, in dem dieses Vertrauen verlorengeht, ist sehr, sehr nahe. Es kommt der Moment der tödlichen Mutation: vom Vertrauen zum Misstrauen. Der R-Wert liegt womöglich schon weit über 1.

Einige Highlights

Uzwilerin mit begrenzter Lebenserwartung

Das Schicksal von Beatrice Weiss: «Ohne Selbstschutz kann die Menschheit richtig grässlich sein»

am 11. Mär 2024
Im Gespräch mit Martina Hingis

«…und das als Frau. Und man verdient auch noch Geld damit»

am 19. Jun 2022
Das grosse Gespräch

Bauernpräsident Ritter: «Es gibt sicher auch schöne Journalisten»

am 15. Jun 2024
Eine Analyse zur aktuellen Lage

Die Schweiz am Abgrund? Wie steigende Fixkosten das Haushaltbudget durcheinanderwirbeln

am 04. Apr 2024
DG: DG: Politik

«Die» Wirtschaft gibt es nicht

am 03. Sep 2024
Gastkommentar

Kein Asyl- und Bleiberecht für Kriminelle: Null-Toleranz-Strategie zur Sicherheit der Schweiz

am 18. Jul 2024
Gastkommentar

Falsche Berechnungen zu den AHV-Finanzen: Soll die Abstimmung zum Frauenrentenalter wiederholt werden?

am 15. Aug 2024
Gastkommentar

Grenze schützen – illegale Migration verhindern

am 17. Jul 2024
Sensibilisierung ja, aber…

Nach Entführungsversuchen in der Ostschweiz: Wie Facebook und Eltern die Polizeiarbeit erschweren können

am 05. Jul 2024
Pitbull vs. Malteser

Nach dem tödlichen Übergriff auf einen Pitbull in St.Gallen: Welche Folgen hat die Selbstjustiz?

am 26. Jun 2024
Politik mit Tarnkappe

Sie wollen die angebliche Unterwanderung der Gesellschaft in der Ostschweiz verhindern

am 24. Jun 2024
Paralympische Spiele in Paris Ende August

Para-Rollstuhlfahrerin Catherine Debrunner sagt: «Für ein reiches Land hinkt die Schweiz in vielen Bereichen noch weit hinterher»

am 24. Jun 2024
Politik extrem

Paradox: Mit Gewaltrhetorik für eine humanere Gesellschaft

am 10. Jun 2024
Das grosse Bundesratsinterview zur Schuldenbremse

«Rechtswidrig und teuer»: Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnt Parlament vor Verfassungsbruch

am 27. Mai 2024
Eindrucksvolle Ausbildung

Der Gossauer Nicola Damann würde als Gardist für den Papst sein Leben riskieren: «Unser Heiliger Vater schätzt unsere Arbeit sehr»

am 24. Mai 2024
Zahlen am Beispiel Thurgau

Asylchaos im Durchschnittskanton

am 29. Apr 2024
Interview mit dem St.Galler SP-Regierungsrat

Fredy Fässler: «Ja, ich trage einige Geheimnisse mit mir herum»

am 01. Mai 2024
Nach frühem Rücktritt: Wird man zur «lame duck»?

Exklusivinterview mit Regierungsrat Kölliker: «Der Krebs hat mir aufgezeigt, dass die Situation nicht gesund ist»

am 29. Feb 2024
Die Säntis-Vermarktung

Jakob Gülünay: Weshalb die Ostschweiz mehr zusammenarbeiten sollte und ob dereinst Massen von Chinesen auf dem Säntis sind

am 20. Apr 2024
Neues Buch «Nichts gegen eine Million»

Die Ostschweizerin ist einem perfiden Online-Betrug zum Opfer gefallen – und verlor dabei fast eine Million Franken

am 08. Apr 2024
Gastkommentar

Weltweite Zunahme der Christenverfolgung

am 29. Mär 2024
Aktionswoche bis 17. März

Michel Sutter war abhängig und kriminell: «Ich wollte ein netter Einbrecher sein und klaute nie aus Privathäusern»

am 12. Mär 2024
Teuerung und Armut

Familienvater in Geldnot: «Wir können einige Tage fasten, doch die Angst vor offenen Rechnungen ist am schlimmsten»

am 24. Feb 2024
Naomi Eigenmann

Sexueller Missbrauch: Wie diese Rheintalerin ihr Erlebtes verarbeitet und anderen Opfern helfen will

am 02. Dez 2023
Best of 2023 | Meine Person des Jahres

Die heilige Franziska?

am 26. Dez 2023
Treffen mit Publizist Konrad Hummler

«Das Verschwinden des ‘Nebelspalters’ wäre für einige Journalisten das Schönste, was passieren könnte»

am 14. Sep 2023
Neurofeedback-Therapeutin Anja Hussong

«Eine Hirnhälfte in den Händen zu halten, ist ein sehr besonderes Gefühl»

am 03. Nov 2023
Die 20-jährige Alina Granwehr

Die Spitze im Visier - Wird diese Tennisspielerin dereinst so erfolgreich wie Martina Hingis?

am 05. Okt 2023
Podcast mit Stephanie Stadelmann

«Es ging lange, bis ich das Lachen wieder gefunden habe»

am 22. Dez 2022
Playboy-Model Salomé Lüthy

«Mein Freund steht zu 100% hinter mir»

am 09. Nov 2022
Neue Formen des Zusammenlebens

Architektin Regula Geisser: «Der Mensch wäre eigentlich für Mehrfamilienhäuser geschaffen»

am 01. Jan 2024
Podcast mit Marco Schwinger

Der Kampf zurück ins Leben

am 14. Nov 2022
Hanspeter Krüsi im Podcast

«In meinem Beruf gibt es leider nicht viele freudige Ereignisse»

am 12. Okt 2022
Stölzle /  Brányik
Autor/in
Gottlieb F. Höpli

Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.

1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.