«Gender» und «Woke» mögen nicht die grössten Probleme unserer Gesellschaft sein. Dennoch: Wer anderen vorschreibt, wie diese etwas zu schreiben haben, ist nicht mehr weit davon entfernt, zu diktieren, was diese noch sagen und denken dürfen.
Covid-Restriktionen des Erwerbslebens, ukrainekriegsbedingte Inflation und CS-Kollaps – dabei stets begleitet durch den zunehmend inflationären bundesrätlichen Griff zu Notrecht – sind nur einige Ereignisse der jüngeren Vergangenheit, die nicht gerade zu ökonomischer und geopolitischer Stabilität beigetragen haben. Viele Menschen machen sich Sorgen um ihr wirtschaftliches Fortkommen.
Vor diesem Hintergrund erstaunt nicht, dass einige Themen auf der Politagenda vorerst zurückgestellt werden. Zumindest die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger erwartet, dass die Politik sich allem voran um die vordringlichen Probleme kümmert und keine Debatten im luftleeren Raum führt.
Selbst der liberale Co-Chefredaktor dieses Mediums, der selber von Gendersprache nicht allzu viel hält und gemäss neuestem Outing in der Printversion der «Ostschweiz» meist die FDP und SVP wählt, hat im Vorfeld der Nationalratswahlen geschrieben, die Junge SVP solle sich doch auf wichtigere Themen als Gender und Woke konzentrieren. Und tatsächlich: Wie Person X ihre Texte verfasst und ob sie Gendersternchen verwendet, ist letztlich sekundär.
Schmal ist der Grat
Aber trotzdem: Schmal ist der Grat von «wie» (Form) man etwas schreiben soll zu «was» (Inhalt) man überhaupt noch sagen und denken darf. Dass zunehmend auch letzteres geschieht, ist leider nicht von der Hand zu weisen. Und dies bedroht den konstruktiven Dialog in fast allen Lebensbereichen.
Es gilt an die offenkundige Banalität zu erinnern, dass die Meinung einer Person nur wahrgenommen werden kann, wenn sie effektiv mit Aussenwirkung geäussert wird. Je stärker der Diskurs aber von der inhaltlichen auf die persönliche Ebene verlagert wird, umso weniger trauen sich viele Leute, überhaupt noch etwas zu sagen.
Dies gilt nicht nur für den politischen Bereich, für den man ohnehin über verbale Schlagfertigkeit und eine emotionale Distanz verfügen sollte, sondern für alle Aspekte des Berufs- oder Privatlebens. Wenn sich die HR-Abteilung eines Unternehmens aufgrund einer selbstauferlegten «Diversity and Inclusion»-Policy nicht mehr traut, der Chefetage die objektiv fähigsten Personen für eine Anstellung oder Beförderung vorzuschlagen, leidet nicht nur der freie Diskurs, sondern auch die wirtschaftliche Produktivität.
Sind Höflichkeit und Komplimente reduktiv?
Und wer sich von Höflichkeit und Komplimenten gleich auf sein Äusseres reduziert fühlt, braucht sich nicht zu wundern, dass mittlerweile selbst junge Menschen ihre Partnersuche zunehmend auf Dating-Apps verlagern, wo die Auswahlkriterien paradoxerweise weitaus mehr von Oberflächlichkeit geprägt sein dürften als im realen Leben. Kurzum: Sprachpolizeiliche Vorschriften und «Political Correctness» betreffen vordergründig zwar nur die Form der Kommunikation. Bei Lichte betrachtet sind sie indes geeignet, den freien Diskurs in nahezu sämtlichen Lebensbereichen zu erodieren.
Wie bereits dargelegt, bildet eine offene Debattenkultur aber die Basis dafür, dass Ideen einer Person überhaupt erst den Weg zu anderen Augen und Ohren finden. Dass Ideen, Meinungen und Ansichten geäussert werden, ist ergo Basis dafür, dass diese überhaupt berücksichtigt werden können.
Geht man davon aus, dass die beste Idee sich – zumindest statistisch betrachtet – am ehesten im freien, möglichst unbeschränkten Diskurs durchsetzt, folgt daraus ohne weiteres, dass die direkte oder indirekte Behinderung der freien Meinungsäusserung Gift nicht nur für Talkrunden, Apéros oder TV-Shows, sondern nahezu sämtliche Lebensbereiche ist. Natürlich gibt es auch tatsächliche Faktoren wie rechtliche Loyalitätspflichten oder faktische Hierarchien, die eine Person bisweilen an der freien Meinungsäusserung hindern. Dies lässt sich in einer unperfekten Welt nicht restlos vermeiden.
Langfristig destruktiv
Wenn aber gender- und wokebedingte – oder sonstige staatliche oder mainstreambasierte – Sprachvorgaben hinzukommen, ist dies langfristig destruktiv. Denn wer geistig in einem Biotop lebt und apodiktisch gewisse Dinge von Vornherein nicht einmal hören will, ist nur bedingt reif für das Leben.
Denn nochmals: Innovation – und als deren Folge auch Wohlstand – geschieht durch Ideenwettbewerb. Gewiss gibt es – sei es in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft oder Privatbereich – viele unsinnige und auch empirisch widerlegte Meinungen. Es ist aber ein entscheidender Unterschied, ob man sich Meinung X zunächst anhört und diese dann durch sachliche Argumente widerlegt – oder ob man Meinung X von Beginn weg nicht einmal anhören möchte.
Hätte man nämlich in der Vergangenheit nie abweichende Meinungen angehört, wäre die Erde heute vielleicht noch immer eine Scheibe. Eine besondere Verantwortung für die Vermittlung von Kompetenzen wie eigenständigem Denken läge damit eigentlich bei den Schulen. Doch diese sind – jedenfalls, wenn man einer Aargauer Maturaarbeit dreier Jungfreisinniger glaubt – oft links geprägt, und zwar vonseiten der Lehrpersonen.
Die St.Galler Protestaktion
Ob sich dies statistisch generaliter erhärten lässt, oder ob eher einzelne Negativbeispiele von Meinungsintoleranz auf den Gesamteindruck abfärben, darf offenbleiben. Ungeachtet der personalrechtlichen Dimension – nämlich, dass die Aktion mit Bildungsdirektor Kölliker abgesprochen gewesen zu sein scheint – löst es nach hier vertretener Auffassung nämlich einige Fragezeichen aus, wenn die St.Galler Gymnasiallehrerin Angelika Wessels, über deren Protestaktion im Zusammenhang mit Marco Rimas Auftritt am diesjährigen kantonalen Bildungstag in diesem Medium berichtet wurde, sich mit einer kleineren Lehrpersonengruppe demonstrativ als Klimakleber verkleidet.
Warum hat eine Gymnasiallehrperson, zu deren Bildungsauftrag das Vermitteln von selbständigem Denken und Arbeiten gehört (§ 3 Abs. 1 MSG/SG), etwas gegen den Auftritt einer andersdenkenden Person an einer staatlichen – und damit de iure zu Neutralität verpflichteten – Veranstaltung? Wäre es nicht zielführender, in der Diskussion aus dem Publikum kritische Fragen zu stellen – was natürlich inhaltlich gute Gegenargumente bedingte – anstatt sich trotzig und als Klimakleber verkleidet auf den Boden zu setzen? Und worin soll überhaupt das Problem liegen, wenn ein Komödiant, der in Covid- und Klimafragen nicht mainstreamkonform denkt, als Redner beziehungsweise Gesprächsteilnehmer an einem Podium zu einem weitestgehend anderen Thema auftritt?
Es gibt auch Lichtblicke
Fragen über Fragen. Doch zum Glück gibt es bisweilen auch Lichtblicke, was die Meinungsäusserungsfreiheit betrifft. So erinnert sich der Autor dieses Beitrags gerne an die letztjährige öffentliche Beratung des Bundesgerichts in Lausanne, als dieses in einem Leitentscheid festhielt, das SRF als quasistaatliches Medium sei auch in Bezug auf die Löschung privater Userkommentare an die Grundrechte gebunden und müsse gegen Kommentarlöschungen der Rechtsweg offenstehen (BGE 149 I 2).
Instruktionsrichterin Julia Hänni (Die Mitte) sagte dabei relativ klar, dass die Meinungsäusserungsfreiheit Schutz vor einer staatlichen Einheitsmeinung biete und gerade die Covid-Phase verdeutlicht habe, dass ein Bedarf nach Meinungsäusserung bestehe. Dem kann man nur zustimmen.
Die Extreme öffnen die Augen
Ungeachtet dessen, dass auch Geimpfte weiterhin Dritte anstecken können, war es kaum rational, rund 25 Prozent der (ungeimpften) Bevölkerung als kleine, laute Minderheit hinzustellen, während man in anderem Zusammenhang für weitaus kleinere Personengruppen politischen Minderheitenschutz betreibt. Gewiss: Auch vor Corona war die Meinungsäusserungsfreiheit bisweilen in Schieflage.
Es sind aber meist die Extreme, die den Leuten die Augen öffnen. Hoffentlich ist dies – zumindest mit zeitlicher Distanz – im Verlauf der letzten drei Jahre bei einigen Leuten geschehen, insbesondere auch Lehrpersonen und Journalisten. Zieht man nämlich aus jener Phase die richtigen Schlüsse, müsste man ungeachtet des eigenen Standpunkts erkennen, wie wichtig freie Meinungsäusserung eigentlich ist.
Diese gilt es nicht allein vor Gender-/Woke-Tendenzen, sondern sämtlichen staatlichen oder anderweitigen Beeinträchtigungen zu schützen. Denn wie dargelegt ist Meinungsäusserungsfreiheit nicht Folge, sondern Ursache zivilisatorischer Errungenschaften, ist «Out of The Box»-Denken doch Ausgangspunkt (auch) für Innovation und Wohlstand.
Hinweis: Die in diesem Text geäusserten Meinungen und Ansichten sind jene des Autors und spiegeln nicht unbedingt die Haltung oder Position der Redaktion.
(Symbolbild: Depositphotos.com)
MLaw Artur Terekhov ist selbstständiger Rechtsvertreter in Oberengstringen ZH.
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