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Multiethnische Ostschweiz

Migration: Von den Saisoniers zur multikulturellen Gesellschaft in der Ostschweiz

Nach dem Zweiten Weltkrieg strömten viele Arbeitskräfte in die Schweiz. Die Einwanderung forderten die Ostschweizer Gesellschaft und die Behörden heraus. Ein langer Lernprozess im Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen setzte ein.

Adrian Zeller am 11. August 2024

Das Ende des Zweiten Weltkrieges löste in der Schweiz einen gesellschaftlichen Wandel aus: Um den 1947 einsetzenden wirtschaftlichen Ausschwung bewältigen zu können, wurden zahlreiche ausländische Arbeitskräfte ins Land geholt. «Die Textil- und Maschinenindustrie, das Baugewerbe und die Landwirtschaft hatte bereits kurz nach Kriegsende mit der gezielten Anwerbung von Gastarbeitern begonnen», schreiben Verena Rothenbühler und Oliver Schneider, Autoren der 2020 erschienen Wiler Stadtchronik.

Kurze Arbeitsaufenthalte

«Die mit Abstand grösste Bevölkerungsgruppe bildeten damals die Italienerinnen und Italiener», halten die Historiker Rothenbühler und Schneider fest. Die Schweiz erlebte zwischen 1951 und 1970 die grösste Welle an Zuwanderung. Aufenthaltsbewilligungen wurden damals befristet erteilt, nach kurzem Arbeitseinsatz sollten die Saisoniers wieder in ihre Herkunftsländer wie Italien, Spanien und Portugal zurückkehren. Es kamen damals vor allem unqualifizierte männliche Stellensuchende. Erst später durften sich auch ihre Familienmitglieder in der Schweiz aufhalten.

Migration

Wohnungsmarkt Mühe. Marcel Vuilleumier schreibt im Historischen Lexikon der Schweiz: «Die Wohnungsnot und das Verbot des Familiennachzugs führten dazu, dass insbesondere 1950 bis 1970 sehr viele Saisoniers und Jahresaufenthalter in Baracken oder auf engstem Raum in alten Liegenschaften hausten.» Er fügt an, dass das Schicksal von illegal eingereisten Familien, deren Kinder nicht eingeschult werden konnten, besonders hart war. Erst zögerlich wird diese Phase der Schweizer Geschichte aufgearbeitet.

Die Behörden und die Wirtschaftsspitzen erkannten in den 1960er- Jahren, dass der Bedarf an ausländischem Personal nicht ein vorübergehender, sondern strukturell war. Deshalb rückte man vom Rotationsprinzip ab und wandte sich schrittweise einer auf Integration und Assimilation ausgerichteten Politik zu. Der Bedarf an Wohnraum, Schulplätzen, Spitälern und Transportmöglichkeiten nahm durch den Anstieg der Einwohner zu. Von 1950 bis 1970 wuchs die Bevölkerung der Schweiz um rund 1, 5 Millionen Personen auf 6 269 783 Menschen.

Immer wieder flohen auch Betroffene von bewaffneten Konflikten in die Schweiz, etwa aus Ungarn, aus Tibet, aus der Tschechoslowakei, aus Sri Lanka, aus Eritrea und auch aus dem Balkankrieg.

Erbitterter Abstimmungskampf

Die intensive Zuwanderung führte in den 1960er-Jahren zu Ängsten vor Überfremdung, wonach die einheimische Bevölkerung durch sie ihre kulturelle Identität verlieren könnte. Insbesondere ältere Schweizer Arbeitskräfte fühlten sich gemäss Rothenbühler und Schneider von den Italienerinnen und Italienern konkurrenziert.

Die damals in der Schweiz verbreitete fremdenfeindliche Stimmung führte 1970 zur Abstimmung über die sogenannte «Schwarzenbach-Initiative». Sie wollte die Zahl der Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz auf zehn Prozent der Bevölkerung pro Kanton limitieren. Bei Annahme der Vorlage hätten über 300 000 Migranten die Schweiz verlassen müssen. Nach einem sehr leidenschaftlich geführten Abstimmungskampf wurde die Initiative mit dem Verhältnis 46 Prozent Ja zu 54 Prozent Nein-Stimmen bei einer sehr hohen Stimmbeteiligung verworfen.

Die heftige Abstimmungskontroverse bewirkte ein Umdenken in der Ausländerpolitik. So forderte der Kanton St. Gallen die Gemeinden auf, die Integration der Zugewanderten zu fördern. Es sollten ihnen Lokalitäten für Veranstaltungen sowie Sportanlagen zur Benutzung überlassen werden.

Vielfältige Integrationshilfen

Gemeinden initiierten Programme, die das Zusammenleben von Einheimischen und Ankömmlingen harmonischer gestalten sollen. Zum Teil wurden entsprechende Kredite in die Haushalte der Gemeinden und Städte aufgenommen. Mit Integrationsklassen, Sprachkursen, multikulturellen Begegnungstagen, Anti-Rassismus-Kampagnen, Integrationsbeauftragten und spezifischen Beratungsangeboten soll den Zugewanderten die Integration in die hiesige Gesellschaft erleichtert werden. Mancherorts werden die Ankömmlinge zu Willkommensgesprächen eingeladen, um mit ihnen über ihre Rechte und Pflichten zu sprechen.

Durch die Zuwanderung aus unterschiedlichen Kulturkreisen hat sich das Erscheinungsbild der Schweizer Gemeinden verändert: Multikulturalität zeigt sich im öffentlichen Raum; in ehemaligen Quartierbeizen werden Thai-Spezialitäten, tibetische Momo und Döner Kebab angeboten. Grossverteiler haben Regale mit Balkan-Lebensmitteln eingerichtet. Und in verschiedenen Gemeinden wurden Moscheen eröffnet.

Zugewanderte werden nicht mehr als Fremdköper, sondern als Teil der Gesellschaft wahrgenommen. Menschen mit Migrationsgeschichte kandidieren mittlerweile für politische Ämter und sie leisten Militärdienst. Und sie sind ganz selbstverständlich erfolgreiche Mitglieder der Schweizer Fussball-Nationalmannschaft.

(Bilder: pd; Adrian Zeller)

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Autor/in
Adrian Zeller

Adrian Zeller (*1958) hat die St.Galler Schule für Journalismus absolviert. Er ist seit 1975 nebenberuflich, seit 1995 hauptberuflich journalistisch tätig. Zeller arbeitet für diverse Zeitschriften, Tageszeitungen und Internetportale. Er lebt in Wil.

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