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Die Mainstream-Presse und die Extremisten

Mit unterschiedlichen Ellen gemessen

Am letzten Wochenende zog ein auf Gewalt und Konfrontation gebürsteter Mob durch Zürich: Man kann von Glück reden, dass bei diesem Saubannerzug keine Polizisten schwer verletzt wurden.

Thomas Baumann am 06. April 2023

Doch danach geschah das Wunder: Selbst die linksliberale Presse wie Tages-Anzeiger und SRF verwendeten zur Bezeichnung der Krawallbrüder für einmal den Begriff «Linksextreme». Diesen hatte sie bisher tunlichst vermieden.

Wimmelte es in deren Universum nur so von Rechtsextemisten (gerne wurden zum Beispiel auch die französischen Präsidentschaftskandidaten Jean-Marie Le Pen und Éric Zemmour, sowie die amtierende italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die allesamt weder an Demonstrationen Molotow-Cocktails schmeissen noch auf politische Gegner einprügeln, als solche bezeichnet), gab es links nur Linksautonome oder schlimmstenfalls Linksradikale. Aber keine Spur von Linksextremisten.

Noch vor sechs Wochen schrieb SRF in der Legende zu einem Bild, das Hammer und Sichel - das altehrwürdige kommunistische Symbol - in Rot auf eine Schaufensterscheibe gesprayt zeigte: «Rechts ein Hammer und eine Sichel in Rot, was als Andeutung auf den Kommunismus verstanden werden kann.»

Andeutung? Hallo?! Wäre dort ein Hakenkreuz gesprayt gewesen, hätte man wohl - zu Recht! - kaum davon gesprochen, dass dies als Andeutung auf den Nazismus verstanden werden kann. Als was sollte man es denn sonst verstehen - etwa als Andeutung auf den Hinduismus? Und Hammer und Sichel als Andeutung auf die Berglandwirtschaft?

Und jetzt also doch: Für einmal wurde das Kind beim Namen genannt.

Doch alte Gewohnheiten sterben bekanntlich langsam. Und so verfasste die Leiterin des Zürich-Ressorts beim Tages-Anzeiger einige Tage später einen Kommentar mit dem Titel: Repression hilft den Radikalen.

Tenor des Elaborats: Die Autonomen suchen die gewalttätige Konfrontation. Wenn wir darauf mit härteren Massnahmen reagieren, spielen wir ihnen bloss in die Hände. Beziehungsweise: Radikalisierte werden kaum auf Gewalt verzichten, weil wir ihnen mit mehr Gewalt begegnen.

Wieder gibt es nur Radikale, Autonome oder gar bloss Radikalisierte - nur keine Linksextremisten. Und man beachte die Formulierung «mehr Gewalt»: Man begegnete ihnen also schon bisher mit Gewalt - was sie schon fast zu Gewaltopfern macht. Dass sie sich da radikalisieren ist ja eigentlich kein Wunder...

«Diese Leute [...] nutzen nun die Dynamik, die mit der Räumung des Koch-Areals [eines besetzen Areals in Zürich] entstanden ist.»

Genauso wie Neonazis, wenn sie wieder einmal eine Flüchtlingsunterkunft niederbrennen (was zum Glück schon lange nicht mehr geschehen ist), selbstverständlich nur die Dynamik der Entwicklung der Asylgesuche nutzen. Wir verstehen...

Zur Idee von SP-Ständerat Daniel Jositsch, der ein härteres Vorgehen auch bei Hausbesetzungen forderte, meinte sie hingegen: «Wer bisher bloss Sympathisant war, wird sich kaum abwenden, nachdem er aus einem besetzen Haus geschmissen worden ist. Eher im Gegenteil.» In besetzten Häusern wohnen also nur absolut friedfertige Zeitgenossen - schlimmstenfalls Sympathisanten - aber sicher keine Krawallbrüder und -schwestern. Zu solchen werden sie erst, wenn man sie rausschmeisst.

«Stattdessen müssen wir eine klare Botschaft senden - und zwar wir alle. Wir wollen das nicht. Wir wollen keinen gewalttätigen Mob, der durch die Strassen unserer Stadt zieht.»

Ersetzen wir Autonome oder Radikalisierte einmal durch Rechtsextreme oder Neonazis: Man solle ihnen nicht mit Gewalt begegnen, weil ihnen das bloss in die Hände spiele. Stattdessen lasse man sie in ihren Vereinslokalen und Waldhütten friedlich ihre Feste feiern und Konzerten von irgendwelchen Nazi-Bands lauschen, denn wenn man ihnen diese Lokale wegnehmen würde, dann werden sie sich vermutlich radikalisieren. Ziehen sie doch einmal als Saubannerzug durch die Strassen, begegne man ihnen keinesfalls mit mehr Gewalt, sondern sende ihnen die klare Botschaft, dass man nicht wollte, dass sie als gewalttätiger Mob durch die Strassen unserer Stadt ziehen - ihre Ideologie aber selbstverständlich Privatsache sei.

So ist es zum Glück nicht: Jede Neonazi-Versammlung, von der die Polizei Wind erhält, wird zu Recht rigoros aufgelöst. Denn dort wird nicht bloss gesoffen und harter Musik gelauscht, sondern auch der Nährboden für Gewalt bereitet.

Warum soll das links anders sein? Wird tatsächlich an einem Neonazi-Konzert heimlich «Mein Kampf» gelesen, während die Werke von Marx und Bakunin in besetzten Häusern nur als Wandschmuck dienen? Sind also - anders als man naiverweise glauben könnte - Neonazis Intellektuelle und stattdessen die Linksextremen Dumpfbacken? Theo Pinkus, der in Zürich während Jahrzehnten die Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung betrieb (und wo der Schreibende - in bester kapitalistischer Manier - sich kurz vor dem Zusammenbruch der DDR noch eine in jenem Arbeiter- und Bauernstaat gedruckte Gesamtausgabe der Werke von Marx und Engels erstand), würde sich im Grab umdrehen.

Tatsächlich kann man in letzter Zeit das überraschende Phänomen beobachten, dass Links- und Rechtsextreme ihre Rollen vertauscht zu haben scheinen: Während Linksextreme prügelnd und brandschatzend durch die Strassen ziehen und Jagd auf den politischen Gegner machen (was bisher eher die Domäne von Rechtsextremen war), macht die extreme Rechte auf bieder und proper. Was ist schliesslich gegen ein bisschen Sport an der frischen Waldluft einzuwenden? Nur war der Wehrsport-Chic, den die «Junge Tat» zelebriert, halt schon immer ein Attribut neonazistischer Gruppierungen - so wenig historisches Bewusstsein kann auch eine «Junge Tat» trotz aller gespielten Naivität nicht vortäuschen.

Ein Übel sind sie beide, Rechts- wie Linksextreme. Es ist mehr als überfällig, dass sich auch die linksliberale Presse - insbesondere das gebührenfinanzierte Fernsehen - endlich dazu aufrafft, beide als solche zu benennen. Ein Anfang ist gemacht - bleibt zu hoffen, dass ein gelegentliches Zurückfallen in alte Fahrwasser wirklich nichts anderes als ein temporärer Rückschlag auf dem Weg zu einer objektiveren Berichterstattung ist.

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Autor/in
Thomas Baumann

Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.

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