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Der gläserne Mensch

Möglichkeiten zum Profiling mit Algorithmen

Die Idee, Menschen anhand ihrer Social-Media-Profile einzustufen, ist nicht neu.

Nellen & Partner am 19. Dezember 2019

Bereits vor zehn Jahren kam zum Beispiel Klout auf den Markt. Das Tool errechnete auf Grundlage von Daten aus Facebook, Google+, YouTube, Twitter, LinkedIn, Foursquare, Instagram, Blogger.com, Tumblr, WordPress, Last.fm und Flickr mithilfe eines geheimen Algorithmus den angeblichen Online-Einfluss von Personen. Vor allem in den USA sahen Unternehmen darin Potenzial, Nutzer im Web schnell und einfach einzustufen, wie Social-Media-Managerin Bianka Boock im Artikel „Abenteuer mit Klout“ beschreibt. Dort war es gängige Praxis, den Einfluss von Menschen anhand des Klout Scores zu bewerten. Der Score diente sogar als Qualifikationskriterium für Jobs, obwohl Klout die Aktivitäten im Web nicht realistisch abbildete, sondern allenfalls einen Ausschnitt – irgendwie – in Betracht zog.

Klout 2.0?

Wer Klout kennt und sich Crystal sowie Apply Magic Sauce anschaut, entdeckt auf den ersten Blick grosse Ähnlichkeiten. Während Klout eine Vielzahl an sozialen Netzwerken integrierte, hat sich Apply Magic Sauce auf Facebook- und Twitterprofile sowie kurze Texte spezialisiert. Crystal wertet als für den Chrome Browser verfügbare Extension in Sekundenschnelle LinkedIn-Profile aus. Klout ordnete Nutzer in eine Kategorie wie „Observer“, „Explorer“ oder „Pundit“ ein, bei Crystal heissen die vier Typen „Dominant“, „Influential“, „Steady“ und „Calculating“. Auch hier sind die Berechnungsgrundlagen nicht transparent und die Ergebnisse ungenau bis unzutreffend sowie auf wenige Aspekte reduziert, wie Management- und Karriereberaterin Svenja Hofert bei einer Analyse feststellte und in ihrem Blog darlegt.

Zudem erkannte Svenja Hofert, dass die Quellen ein Problem darstellen. Je weniger Know-how, zeitliches Investment und Interesse an der Plattform, desto schlechter seien die Online-Profile gestaltet. „Viele nutzen noch den voreingestellten blauen ‚Sternenhimmel‘ von Linkedin und haben nur ein oder zwei Positionen ausgefüllt. Über die Persönlichkeit sagt das höchstens, dass jemand sich nicht vermarkten muss oder will.“ Dies ist vor allem bei Experten der Fall. Schon 2011 diagnostizierten Marktforscher von Gartner dem Informationsnetzwerk Silicon zufolge insbesondere bei Early Adoptern Social-Media-Müdigkeit: „31 Prozent der jungen, eher mobilen und markenbewussten Konsumenten hätten angeben, von Social Media gelangweilt zu sein“, sagte Brian Blau, Research Director bei Gartner. So ist vom webaffinen Facebook-Chef Mark Zuckerberg kein LinkedIn-Profil zu finden. Das Profil von Amazon-Gründer und CEO Jeff Bezos, das über den beschriebenen blauen Sternenhimmel verfügt, gibt nicht viel preis. Dies zeigt: Soziale Netzwerke allein sind keine zuverlässigen Quellen, welche die Realität widerspiegeln. Denn sie sagen nichts über den Grund aus, warum ein Profil so ist, wie es ist.

„Garbage in, Garbage out“

Angesichts dessen kann in der Folge kein Algorithmus der Welt sinnvolle Ergebnisse liefern. Auch hier gilt der Informatikgrundsatz: „Garbage in, Garbage out.“ Damit sind Analysen wie der „Interpersonal Dynamic Chemistry Report“ von Crystal genauso bedeutsam wie ein Horoskop. Ergo nützen all die darauf aufbauenden Tipps der Anwendung nichts – egal, ob es darum geht, wie der Kandidat motiviert werden kann, wodurch er sich beim Arbeiten auszeichnet, was zu vermeiden ist, wie er sich in einem Meeting verhält oder wie er angeschrieben werden kann. Im Gegenteil! Svenja Hofert erläutert: „Crystal hat sich das Ziel gesetzt, auch die Kommunikation zu erleichtern. Doch auch dieser Schuss kann nach hinten losgehen. Die ‚Hofert‘ ist eine, bei der du ‚emails mit ideas‘ absetzen musst, rät Crystal. Ziemlich schnell könnte ich davon genervt sein.“ Ihr Fazit: Derzeit sind diese Tools „gefährliche Datenspielerei“. Es sei grob fahrlässig, wenn Personaler mit solchen Daten arbeiten und die Informationen nicht präzise hinterfragen.

Abwarten und hoffen, dass die Künstliche Intelligenz dazulernt, hilft nicht, zumal selbstlernende Algorithmen auch Vorurteile übernehmen können, wie die Berliner Zeitung unter Berufung auf Forscher um die Informatikerin Aylin Caliskan von der Princeton University berichtet. Vielmehr ist es wichtig, die Entwicklungen auch über die eigenen Bereiche hinaus aus verschiedenen Perspektiven zu beobachten. Dann wird klar, dass Programme wie Crystal und Apply Magic Sauce nicht besser als das einst gefeierte Klout sind, das übrigens seit dem 25. Mai 2018 Geschichte ist.

Auf die Datenbasis kommt es an

Persönlichkeiten sind komplex und facettenreich. Gemeinsam haben alle Tools das Ziel, Komplexität zu reduzieren und entsprechende "fassbare" Profile darzustellen. Damit ist es unmöglich, auf Stereotypen zu verzichten, welche klassische charakterliche Eigenschaften abbilden. Um eine substanzielle und holistische Beurteilung zu erreichen, muss der Mensch jedoch auf unterschiedliche Arten beleuchtet werden. Persönlichkeitsanalysen, die auf einer nicht nachvollziehbaren Auswertung von Social-Media-Profilen beruhen, liefern bestenfalls Hinweise oder Ideen für charakterliche Ausprägungen, welche dann kritisch hinterfragt werden müssen.

Dies kann in der Praxis wie folgt aussehen:

Gibt das Profil beispielsweise Auskunft darüber, dass der Kandidat stark konfrontierend sei, so lässt sich daraus eine Frage ableiten, bei welcher der Kandidat die Chance hat, dies zu bestätigen oder zu verneinen. In etwa so: „Stellen Sie sich vor, Ihr Vorgesetzter verkauft in der nächsten Sitzung Ihre Idee als seine, erwähnt Sie aber mit keinem Wort. Wie gehen Sie damit um?“ Die spontane Antwort des Kandidaten dürfte Rückschlüsse auf seine Kompetenzen, sein Verhalten wie auch seine Motivation zulassen.

Wir halten damit fest, dass Crystal, Apply Magic Sauce & Co. keine Revolutionen sind und dass bei der Recherche nach der charakterlichen Essenz die Künstliche Intelligenz zwar hilfreich ist, ihre Aussage jedoch reflektiert bzw. die Gültigkeit dieser überprüft werden muss. Wie bei der menschlichen Recherche gilt für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz die Prämisse: Die Quellen müssen zuverlässig sein. Nur wenn dies der Fall ist, können realistische Daten erhoben werden, und die Automatisierung mit ihrem disruptiven Potenzial kann ein hilfreicher Prozess sein.

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