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Bundesgericht zu Schulmaskenpflicht

Mutlos: Vom Problem der freiwilligen gerichtlichen Zurückhaltung

Die beiden Bundesgerichtsurteile, welche die Maskenpflicht an Schulen auch für Unter-12-Jährige absegnen, sind nicht grundfalsch. Sie kommen jedoch zum falschen Zeitpunkt und animieren die Behörden zu rechtswidrigen Verschärfungen.

Artur Terekhov am 22. Dezember 2021

Und: Sie zeugen von einem irrationalen und mutlosen Vertrauen in behördliches «Fachwissen».

Am Freitag hat das Bundesgericht zwei Urteile publiziert, worin es eine Maskenpflicht in Berner Schulen von Januar und Februar 2021 nachträglich für rechtmässig beurteilt hat. Darin äusserte es sich auch zur bis dahin umstrittenen Frage, ob in Schulen auch für Unter-12-Jährige eine Maskenpflicht zulässig sei, während der Bundesrat in fast allen übrigen Lebensbereichen Kinder unter 12 Jahren von der Maskentragepflicht ausnimmt. Das Bundesgericht erblickt darin keinen Widerspruch und hält fest, dass die Kantone für den Schulbereich eigenständig entscheiden und auch tiefere Altersgrenzen für die Maskenpflicht festlegen können.

Dies ist aus Sicht des Autors reichlich sinnlos, denn der Umstand, dass ein Kind im öV ganz legal maskenfrei einer 85-Jährigen (Risikogruppe) gegenübersitzen darf, mit Gleichaltrigen (Nichtrisikogruppe) in der Schule jedoch maskiert herumlaufen muss, entbehrt jeder Logik. Doch obwohl oder gerade weil Masken – verglichen mit Lockdowns, Testen am Arbeitsplatz oder staatlichem Impfdruck – zugegebenermassen ein leichter Grundrechtseingriff sind (wenn man nicht gerade am Reden oder Sporttreiben ist) und die Maskenthematik damit eher ein Stellvertreterkrieg im Kampf gegen den überbordenden Gesundheitspräventionismus ist, ist es schade, dass sich die Gerichte in Bezug auf Covid-Recht bislang primär zu Masken äussern mussten und nicht präventivem Hausarrest namens Quarantäne, die offenkundig stärker in die persönliche Freiheit eingreift als das Tragen einer Hygienemaske. Es besteht also die Gefahr, dass die Maskenurteile von Behörden für noch härtere Massnahmen missbraucht werden, obwohl dies gerade nicht deren Aussage war. Was aus freiheitlicher Sicht zu loben bzw. kritisieren ist, sei anhand drei zentraler Urteilszitate verdeutlicht:

Zitat 1: „Namentlich besteht bei neu auftretenden Infektionskrankheiten typischerweise eine hohe Unsicherheit über Ursachen, Folgen und geeignete Bekämpfungsmassnahmen […] Die zu treffenden Massnahmen können daher nicht im Voraus mit Bestimmtheit gesetzlich festgelegt werden, sondern müssen aufgrund des jeweils aktuellen, in der Regel unvollständigen Kenntnisstandes getroffen werden […] Mit fortschreitendem Wissen sind die Massnahmen anzupassen […] Massnahmen, die in einem bestimmten Zeitpunkt aufgrund des damaligen Kenntnisstands als gerechtfertigt betrachtet wurden, können mit besserem Wissen später als unnötig erscheinen; umgekehrt ist denkbar, dass mit verbesserter Erkenntnis Massnahmen als geeignet oder erforderlich erscheinen, welche früher nicht in Betracht gezogen oder getroffen wurden.“ Diese Aussage ist sehr lobenswert. Sie sagt nämlich, dass je länger eine Krankheit existiert, umso eher von den Behörden zu erwarten ist, dass sie ihre Massnahmen nicht aufs Geratewohl treffen, sondern diese empirisch begründen. Dies ist auch als Mahnfinger zu verstehen, dass Behörden eine rechtliche Pflicht haben, ihre Einschränkungen rational zu begründen. Psychologisch ist die Aussage aber trotzdem (unvermeidlich) suboptimal. Wird eine Behörde ein Jahr später für ihre Verordnung entlastet, nimmt sie dies nämlich ziemlich sicher zum Anlass, weitere Einschränkungen zu verordnen, da sie sich in ihrem Verhalten bestärkt fühlt – obwohl das Bundesgericht eine solche Bestärkung eben gerade nicht erteilt, sondern klar festgehalten hat, dass je länger Massnahmen dauern, umso seriöser auch deren Begründbarkeit sein muss.

Zitat 2: „Jedenfalls wenn es um möglicherweise gewichtige Risiken geht, können Abwehrmassnahmen nicht erst dann getroffen werden, wenn wissenschaftliche Klarheit vorliegt, sondern bereits dann, wenn eine erhebliche Plausibilität besteht.“ Dieses Zitat ist aus freiheitlicher Sicht weit stärker zu hinterfragen als das erste, redet es doch dem Vorsichtsprinzip das Wort. Und eine totale-Sicherheit-Gesellschaft ist weder möglich noch erstrebenswert. Zugleich ist klar, dass auch aus liberal-minimalstaatlicher Optik eine Minimalprävention zulässig ist, aber erstens nur gegen ernste Gefährdungen mit einer Mindestintensität, die zugleich einen nicht leicht wiedergutzumachenden Nachteil bewirken, und zweitens wenn die Gefahr nicht nur hypothetisch, sondern ziemlich wahrscheinlich ist. (Drittens dürfen die negativen Begleiteffekte einer Massnahme nicht deren Nutzen überwiegen und die Notwendigkeit einer Risikoabwägung anerkennt das Bundesgericht sogar explizit). Was wiederum die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr betrifft, ist absolute Genauigkeit nicht möglich und steckt der Teufel einmal mehr im Detail. Konkret gilt es – und zumindest in der Theorie ist das Bundesgericht auch dieser Meinung – zu betonen, dass nicht jede „Plausibilität“ für staatliche Minimalprävention ausreicht, sondern wirklich nur eine „erhebliche Plausibilität“. Eigentlich müsste daraus folgen, dass der Bundesrat nicht bloss seine BAG-nahen Kreise als quasigöttliche Autoritäten für die Entscheidfindung beiziehen dürfte, sondern auch seriöse Mediziner wie z.B. Ionannidis, Bhakdi oder Wodarg berücksichtigen müsste. Jeder Mensch mit Hirn weiss, dass dies aktuell nicht der Fall ist. Die aktuelle Panikkultur ist eher wie folgt zu umschreiben: „Vielleicht kommt man für Sex vor der Ehe in die Hölle, vielleicht aber auch nicht. Man kann es weder beweisen noch widerlegen, also sind wir lieber mal vorsichtig und schützen den Menschen vor sich selbst.“ Dass dieser Vergleich zwar provokativ, aber nicht falsch ist, zeigt in trauriger Weise, wie weit wir gekommen sind.

Zitat 3: „Das Bundesgericht prüft bei Grundrechtseingriffen die Verhältnismässigkeit frei. Es auferlegt sich aber eine gewisse Zurückhaltung, wenn sich ausgesprochene Ermessensfragen stellen oder besondere örtliche Umstände zu würdigen sind, welche die kantonalen Behörden besser kennen und überblicken als das Bundesgericht […] oder die Beurteilung einer Massnahme von umstrittenen technischen Kenntnissen abhängt […] Solange in keiner Rechtsnorm festgelegt ist, wie hoch das akzeptable Risiko bzw. das erforderliche Sicherheitsniveau ist, steht auch nicht fest, wo die Grenze zwischen zulässigen und unzulässigen Risiken liegt.“ Dies ist die mit Abstand problematischste Aussage im ganzen Urteil, denn sie sagt nichts Geringeres, als dass sich das Bundesgericht bei Fragen, welche besondere Fachkenntnis erfordern, freiwillig eine Kognitionsbeschränkung auferlegt, anstatt seine richterliche Unabhängigkeit (Art. 191c BV) umfassend auszuüben. Diese gutschweizerische, im Ergebnis aber feige und falsche Manier entsprach bereits ante Corona der hiesigen Gerichtspraxis – was sie aber nicht richtiger macht. Denn so wertvoll die aussenpolitische Neutralität eines Landes zwecks Wahrung des internationalen Friedens auch ist (denn wohin Weltpolizeigelüste führen, wissen wir bestens aus der Geschichte): Neutralität darf nie mit Feigheit verwechselt werden. Und selbstverständlich gibt es komplexe Fragen, welche der Richter als Jurist nicht ins letzte Detail beantworten kann. Doch er kann fast immer (!) Gutachten in Auftrag geben, um neben den offiziellen Angaben der Regierung auch andere Quellen für seine Entscheidfindung zur Verfügung zu haben. Zudem sind diverse medizinische Fragen auch mit einer durchschnittlich hohen Allgemeinbildung beantwortbar. Mit anderen Worten: Während die Technik von Chirurgie oder Anästhesie langjähriger Übung bedarf, ist hingegen auch von einem Juristen mit Hochschulabschluss nicht zu viel verlangt, zwischen Bakterien und Viren zu unterscheiden oder selbstständig Statistiken zur Mortalität eines Virus zu interpretieren und sich ergo eigene (!) Gedanken zur Risikolage zu machen.

Kurzum: Die Bundesgerichtsurteile zur Schulmaskenthematik sind kein Freipass für beliebige Freiheitseinschränkungen. Doch die soeben erwähnte Zurückhaltung der Gerichte in Sachverhaltsfragen und deren Vertrauen „im Zweifel zugunsten der Fachbehörden“ entspricht einem Ungeist der schweizerischen Judikatur, welcher lange Tradition hat und sich bereits ante Corona in diversen Rechtsmittelverfahren zeigte (z.B. Baubewilligungsverfahren) – oftmals zulasten der Privaten, die infolge diplomatischer Zurückhaltung von Gerichten eher Opfer staatlichen Machtmissbrauchs werden können.

Dieselben RichterInnen, welche sich vornehm auf Rechtsfragen beschränken, anstatt den „wohlwissenden Fachbehörden“ hineinzureden, sind im Übrigen oftmals auch dieselben Leute, die meinen, ein Richter müsse zwingend über eine juristische Ausbildung verfügen, da Laienrichter für jenen „anspruchsvollen“ Job ungeeignet seien – als ob es keine Naturgesetze gäbe, welche dem Menschen ab Geburt klar wären. Wie dem auch sei: Ohne die – zugegebenermassen komplexe – Thematik des Laienrichtertums abschliessend zu klären (der Autor dieser Zeilen hat damals gegen die Abschaffung der Laienrichter im Kanton Zürich gestimmt), gilt es festzuhalten, dass von Juristen nicht zu viel verlangt ist, den gesunden Menschenverstand einzuschalten sowie öffentlich zugängliche Statistiken zu konsultieren. Denn theoretische Ausführungen allein sind nun einmal nicht ausreichend. Es braucht mutige und kritische Richter, um einen Gesundheitsfaschismus abzuwenden.

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Autor/in
Artur Terekhov

MLaw Artur Terekhov ist selbstständiger Rechtsvertreter in Oberengstringen ZH.

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