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Gastkommentar

Nach Missbrauchsskandal in der Kirche: Muss der zölibatäre Lebensstil abgeschafft werden?

Ende September haben wir Katholik:innen in der Schweiz einen veritablen Schock erlebt. Die Studienergebnisse zum sexuellen Missbrauch in der Katholischen Kirche haben Mitarbeitende und Gläubige tief erschüttert.

Ann-Katrin Gässlein am 11. März 2024

Vieles ist im Nachgang geschehen oder ist aktuell in der Entstehung – darunter eine gesamtschweizerische unabhängige Meldestelle für Opfer oder ein offizielles Verbot der Vernichtung aller Akten, die mit Missbrauchsfällen in Zusammenhang stehen.

Darüber hinaus hat die Studie gezeigt, dass ein Struktur- und Kulturwandel in der Katholischen Kirche nötig ist; nicht nur, um sexuellen Missbrauch in Zukunft zu verhindern, sondern auch, um verlorenes Vertrauen und Glaubwürdigkeit wieder zu erlangen. Auf beides ist die Kirche dringend angewiesen, wenn sie die Botschaft des Evangeliums verkünden und leben will.

Ende September hat auch der St. Galler Bischof Markus Büchel in einem öffentlichen Brief bekundet: «Des Weiteren sind wir entschlossen, in den Themen der Machtfrage, der Sexualmoral, des Priester- und Frauenbildes sowie der Ausbildung und der Personalauswahl konkrete Schritte zu unternehmen, die auch in der Studie eingefordert werden.»

«Reformen jetzt» für einen Kulturwandel

Dank umfassender Studien aus verschiedenen Teilen der Gesellschaft wissen wir heute, dass sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen kein spezifisches Problem der Katholischen Kirche ist. Weil aber gerade die Kirche mit ihrem Auftrag dem Wohl der Menschen verpflichtet ist, treffen die Erkenntnisse über sexuellen Missbrauch umso härter.

Wir müssen alle Strukturen kritisch hinterfragen, die einen sexuellen Missbrauch in diesem Ausmass zumindest ermöglichen konnten. Dem hat sich die kirchenpolitische Bewegung «Reformen jetzt» verpflichtet: Gemäss dem Prinzip «Konstruktiv und machbar» schauen wir, wo wir Bischöfe oder staatskirchenrechtliche Organe zum Handeln auffordern können, ohne uns aus der Verfassung der Weltkirche herauszukatapultieren.

Darum mögen die Vorschläge, die ich mit zahlreichen Fachleuten in verschiedenen Zusammensetzungen mitverfasst habe, von aussen betrachtet nur kleine Schritte sein. Dennoch können wir viel damit erreichen.

Sicherheit für ein Leben nach dem Zölibat

Jüngst haben wir den vierten Vorstoss «Sicherheit für ein Leben nach dem Zölibat» eingereicht. Immer wieder stellen Priester – von denen es immer weniger in der Schweiz gibt – nach Jahren fest: Der zölibatäre Lebensstil ist für sie persönlich nicht stimmig und nicht dauerhaft praktikabel.

Was in früheren Jahrhunderten und Jahrzehnten zur Unterdrückung tiefster Sehnsüchte, zu Doppelleben, zu schmerzvollem Verschweigen oder – im schlimmsten Fall – zu Gewalt und Missbrauch geführt hat, wird heute anders gehandhabt. Transparenz, Aufrichtigkeit und Einstehen für die eigene Identität und das eigene Handeln werden heute moralisch eingefordert. Wenn sich ein Pfarrer in der Schweiz zu Partnerin und Familie bekennt, wird er zum grossen Teil Solidarität erfahren, statt öffentlichen Ärger auszulösen.

Auch von Seiten der Kirchenleitungen dürfte ihm sensible Begleitung und Unterstützung sicher sein, vor allem, wenn er sich entscheidet, ein so genannten Laisierungsverfahren anzustreben: Dies bedeutet, dass er vom Papst von seinen Rechten und Pflichten als Priester entbunden wird.

Die Vision: mehr priesterliche Berufungen

Um dieses Verfahren nun zu erleichtern, fordert «Reformen jetzt», den laisierten Priestern möglichst viele Orte und Wege im kirchlichen Dienst offen zu lassen. Laisierte Priester sollen einheitlich in der ganzen Schweiz die gleichen Rechte erhalten wie nicht-geweihte Theologinnen und Theologen: Das heisst, dass sie auch nach ihrem Leben im Zölibat in Gottesdiensten predigen, Menschen taufen oder eine Ortsgemeinde leiten dürfen. Auf einem schmalen Pfad zwischen Gestaltungsfreiheit und Willkür mit dem eigenen Personal darf im Sinne der Nichtdiskriminierung eine solche Gleichstellung nicht prinzipiell verweigert werden.

Es dabei zu belassen, wäre aber Pflästerli-Politik. Als Katholik:innen wollen natürlich nicht den wenigen verbliebenen Priestern einen «Ausstieg» schmackhaft machen, sondern wünschen, dass mehr Menschen, die eine Berufung zum priesterlichen Dienst spüren, diesen auch leben können! Neben der Unmöglichkeit der Weihe von Frauen ist der Zölibat das Haupthindernis für Männer, sich für eine Priesterweihe zu entscheiden.

Den zunehmenden Personalmangel hat die Kirche mit diesen heute kaum mehr nachvollziehbaren Einschränkungen zu einem grossen Teil selbst verschuldet. Wer glaubwürdig einen gerechten und fairen Umgang mit Ex-Priestern fordert, muss auch die Wurzel des Problems benennen. Bischof Felix Gmür hat sich mehrmals öffentlich für eine Freistellung der zölibatären Lebensform ausgesprochen. Der synodale Weg in Deutschland und – ganz aktuell auch die belgischen Bischöfe – wollen den Pflichtzölibat beenden.

Auch unsere Schweizer Bischöfe sollen dies in Rom bei der im Herbst fortgesetzten Weltsynode fordern. Wir sind überzeugt, dass eine solche Entscheidung nicht nur das Leid einiger amtierender Priester beenden und der Kirche neue Priester zuführen würde, sondern auch die Lebensform der evangelischen Räte – Armut, ehelose Keuschheit und Gehorsam – nachhaltig stärken würde: als frei gewählte Form christlicher Existenz um den «Himmelreiches Willen», wie es die Bibel beschreibt.

Vorstoss kann unterstützt werden

Wie sehr der Vorstoss ins Herz der Anliegen von Katholik:innen in der Schweiz trifft, zeigen unsere Mit-Unterzeichnenden, von denen sich viele in nationalen Organisationen engagieren: Der Vorstand des Vereins «Vom Zölibat betroffene Frauen» (ZöFra), die Präsidentin des Katholischen Frauenbunds, die Allianz Gleichwürdig-Katholisch, der ehemalige Präsident der «Herbert-Haag-Stiftung für Freiheit in der Kirche» und mehrere Priester – laisierte als auch amtierende – haben den Vorstoss mitentwickelt. Unterzeichnen können ihn alle Menschen, die zu einem Kulturwandel beitragen möchten: www.reformenjetzt.ch

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Nach Kommentar von Stefan Schmid

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Autor/in
Ann-Katrin Gässlein

Ann-Katrin Gässlein

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