Professor Andreas Kley erinnert den Bundesrat daran, dass das Nein des Nationalrats zum 109-Mrd-CS-Kredit sehr wohl verbindlich ist. Dessen Ignoranz ist bedenklich – und illustriert die Richtigkeit Augustinus‘ frühchristlicher Staatsskepsis.
Das nationalrätliche Nein von letztem Mittwoch zum 109-Milliarden-Verpflichtungskredit im Rahmen der CS-Rettung sei nur symbolisch, hiess es unverhohlen vonseiten des Bundesrats. Mit anderen Worten: Das Nein des Bundesparlaments habe keine Rechtsverbindlichkeit, schliesslich habe der Bundesrat bereits zu Notrecht gegriffen und liege überdies eine Genehmigung der Finanzdelegation der Bundesversammlung vor. Dann widersprach der Zürcher Staatsrechtsprofessor Andreas Kley im „20 Minuten“ – und wies den Bundesrat auf die Rechtslage hin, welche (eigentlich) auch bereits aus der Medienmitteilung der parlamentarischen Finanzdelegation vom 19. März 2023 hervorgeht.
Notrecht hin oder her: Auch dringliche Verpflichtungs- oder Nachtragskredite müssen gemäss dem Finanzhaushaltsgesetz (FHG) vom Bundesparlament genehmigt werden. Zwar kann der Bundesrat, wenn die Ausführung eines Vorhabens keinen Aufschub duldet, schon vor der Bewilligung des dringlichen Verpflichtungskredits die Bewilligung zur Inangriffnahme oder Fortsetzung des Vorhabens erteilen, wobei er vorgängig immerhin die Zustimmung der Finanzdelegation einholen muss (Art. 28 Abs. 1 FHG). Dies ist vorliegend am 19. März 2023 geschehen: Die Finanzdelegation der eidgenössischen Räte, welche aus sechs Personen besteht, hat ihre Zustimmung sowohl zur 100-Milliarden-Ausfallgarantie gegenüber der SNB als auch zur 9-Milliarden-Verlustabsicherungsgarantie gegenüber der UBS erteilt. In ihrer Medienmitteilung hielt sie aber auch wörtlich fest: „Der Bundesrat muss der Bundesversammlung die beiden Verpflichtungskredite in jedem Fall zur nachträglichen Genehmigung unterbreiten (Art. 28 Abs. 2 FHG).“ Nichts anderes würde im Übrigen gelten, wenn es sich nicht um einen erstmaligen Verpflichtungskredit, sondern einen dringlichen Nachtragskredit handeln würde. Auch dieser wäre dem Bundesparlament zwingend nachträglich zur Genehmigung zu unterbreiten (Art. 34 Abs. 2 FHG).
In der Juristerei gibt es bekanntlich klare und weniger klare Rechtsfälle. Tatsächlich ist der Gesetzestext oft nicht absolut klar, weil die menschliche Sprache unvollkommen ist. Und es gibt unbestimmte Rechtsbegriffe wie Verhältnismässigkeit und Interessenabwägung, womit es wenig erstaunt, dass man bisweilen – wie provokative Zungen sagen – drei Juristen und fünf Meinungen hat. Es gibt aber auch sonnenklare Fälle. Eine Frist von 30 Tagen dauert 30 Tage und nicht 10. Auch der Wortlaut von Art. 28 Abs. 2 FHG ist kaum auslegungsbedürftig: „Der Bundesrat unterbreitet die dringliche Verpflichtung der Bundesversammlung zur nachträglichen Genehmigung.“ Was daran schwierig zu verstehen sein sollte, erhellt nicht. Wenig erstaunlich ist vor diesem Hintergrund, dass Professor Kley in „20 Minuten“ nicht lange rumeiert, sondern festhält, die Rechtslage sei klar: „Der Bundesrat braucht die Zustimmung des Parlaments. Dieses hat rechtsverbindlich das letzte Wort – und nicht die Finanzdelegation, welche die Kredite vorläufig und dringlich genehmigt hat.“ Verglichen mit anderen medialen Statements von Rechtsprofessoren zu anderen, effektiv auch komplexeren Themen, eine klare Ansage. Eine, die beim Bundesrat indes nicht auf offene Ohren stösst. Dieser hält an seiner Auffassung fest.
Es gibt nur zwei Interpretationen: Entweder begeht die Mehrheit der rechtlichen Berater im Umfeld des Bundesrates einen grundlegenden Denkfehler – und durch grobe Fahrlässigkeit wird aus der juristischen Methodenlehre die Methodenleere. Oder aber der Bundesrat handelt vorsätzlich und setzt sich bewusst über geltendes Gesetzesrecht hinweg, obschon er auch durch Notrecht die bestehende Kompetenz- bzw. Zuständigkeitsordnung nicht aushebeln dürfte. Es gilt daran zu erinnern, dass man über den Inhalt von Bundesrats- oder Parlamentsentscheiden oftmals politisch verschiedener Meinung sein kann. Wenn aber sogar die rechtliche Kompetenzordnung über Bord geworfen wird und nicht einmal die zuständige Behörde handelt, wird es sehr bedenklich und ist die Bananenrepublik nicht mehr weit entfernt.
Dies erinnert den Autor dieses Beitrags an seine gymnasiale Latein-Maturalektüre, in deren Rahmen er sich mitunter mit „De civitate Dei“ des frühchristlichen Augustinus auseinandergesetzt hatte – also einem Werk aus einer Zeit, als Kirche und Staat noch nicht so eng verflochten waren wie im Mittelalter (bzw. auch heute), sondern die christliche Botschaft noch etwas Rebellisches und Machtkritisches hatte (genauso wie in den USA dank einer strikten Trennung von Kirche und Staat christliche Werte auch heute noch oft Hand in Hand mit liberal-libertärem Gedankengut gehen). Augustinus schrieb dabei eine Anekdote zu einem Piraten, welcher von Alexander dem Grossen auf hoher See zur Rechenschaft gezogen wurde, und diesem dabei freimütig antwortete: „Machst du es mit dem Erdreich anders? Ich freilich mit meinem winzigen Schiff heisse Räuber, während man dich mit der grossen Flotte Feldherr nennt?“ Entgegen teilweise verbreiteter Auffassung darf jene Passage – im Kontext von Augustins Gesamtwerk – nicht als Aufruf zur Anarchie gelesen werden, sondern nur, aber immerhin als ein solcher, staatliche Autoritäten und insbesondere deren Rechtstreue und Gerechtigkeit immer und immer wieder zu hinterfragen. Denn tatsächlich kann der Staat zur zivilisierten Räuberbande werden. Die 109 Milliarden, welche der Bundesrat entgegen dem Nein des Bundesparlaments gleichwohl ausgeben oder zumindest als Ausfallgarantie zur Verfügung stellen will, bleiben letztlich nicht an den einzelnen Bundesräten privat hängen, sondern am Steuerzahler.
Nicht zu vergessen gilt es in diesem Zusammenhang die Macht des Faktischen: Natürlich darf und soll man die Macht des Bundesrats im Zusammenhang mit dem Notrecht beschränken, sei es durch eine stärkere gerichtliche Kontrolle oder eine Stärkung der parlamentarischen Mitsprache (oder im Optimalfall durch beides). Weit effizienter ist aber schlicht der Entzug von Finanzmitteln: Hat der Staat weniger Geld zur Verfügung, konzentriert er sich automatisch auf die unverhandelbaren Staatsaufgaben des Gewaltmonopols, um Selbstjustiz in der Bevölkerung zu vermeiden – während Luxusausgaben wie die Rettung einer selbstverschuldet zu Boden gewirtschafteten Bank hintanstehen müssen. Das systematische Ergreifen von Referenden gegen die Einführung neuer Steuern und Abgaben jeder Art ist mithin wesentlich, um den Einfluss des Staates aus unserem Privatleben, einschliesslich unserer Finanzen, konsequent zurückzudrängen. In der Theorie müsste dies bei allen bürgerlich-liberalen Parteien auf dem Radar sein. Die Realität sieht leider anders aus. Ein „wind of change“ ist dringend notwendig. Denn wer im liberalen Rechtsstaat schläft, sieht sich dereinst einer Räuberbande gegenüber.
MLaw Artur Terekhov ist selbstständiger Rechtsvertreter in Oberengstringen ZH.
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