Mit seinem aktuellen Kommentar hat sich «Blick»-Chefredaktor Christian Dorer selbst übertroffen. Im schlechtesten Wortsinn.
«Impfprivilegien» seien für ihn schon jetzt «das Unwort des Jahres», so Christian Dorer in einem Kommentar im «Blick», dem er als Chefredaktor vorsteht. Denn es handle sich nicht um Privilegien. Die Herführung zu dieser These ist reichlich abenteuerlich und verdient es, seziert und kommentiert zu werden.
Dorer: «Good News wie aus dem Bilderbuch: Die flächendeckende Covid-19-Immunisierung macht verordnete Einschränkungen zunehmend unnötig und die Rückkehr zu unserem gewohnten Leben wieder möglich.»
Welche Bilderbücher Dorer zuhause führt, wissen wir nicht. Tatsache ist, dass es nicht die Impfungen sind, welche die Einschränkungen unnötig machen. Es ist der Bundesrat, der definiert hat, dass dafür eine flächendeckende Impfung nötig ist. Die Politik hat das entschieden, ansonsten gibt es keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen Impfstoff und «Lockerungen» von Massnahmen, die zum grössten Teil von Anfang an nicht nötig oder sinnvoll waren.
Dorer schreibt: «Nichtgeimpfte können dann nicht länger auf die Solidarität der Geimpften zählen – zumal sie sich selbst unsolidarisch verhalten, wenn sie sich nicht impfen lassen wollen.»
Mit «dann» meint Dorer: Sobald alle, die es wollen, zwei Mal geimpft sind. Aber wie genau ist es «unsolidarisch», wenn man sich nicht impfen lässt? Die Impfung verhindert bekanntlich keine Ansteckung. Sie dient dazu, den Krankheitsverlauf zu mildern, deshalb wurden ja auch die Risikogruppen zuerst geimpft. Weshalb also ist ein kerngesunder 30-Jähriger, der sich den in Rekordzeit entwickelten Impfstoff nicht geben will, unsolidarisch? Wem schadet sein Verhalten?
Wenn nun nur noch Geimpfte (sowie Genesene oder gerade erst Getestete) ins Konzert oder Theater gehen dürfen, beurteilt Dorer das so:
«Mit Privilegien jedoch hat das alles überhaupt nichts zu tun. Denn das Wort Privileg bedeutet laut Duden das «einer Gruppe vorbehaltene Sonderrecht». In der Geschichte war es sogar ein Recht für wenige oder einzelne – eine Ausnahmeregelung, um nicht zu sagen: Unrecht. Kann die Rückkehr zur Normalität Unrecht sein?»
Die Duden-Definition trifft zu 100 Prozent auf den Vorschlag des Bundesrats zu, deshalb ist es nett vom «Blick»-Chefredaktor, dass er sie gleich liefert. Ja, die «Rückkehr zur Normalität» kann Unrecht sein, wenn diese Normalität durch nicht evidenzbasierte, willkürlich erlassene Verordnungen zerstört wurde und man sich danach einen Impfstoff zuführen muss, um diese von der Politik konstruierte «neue Normalität» verlassen zu dürfen. Es ist sogar ein Unrecht wie im Bilderbuch, um bei Dorers Wortwahl zu bleiben.
Dorer schreibt weiter: «Natürlich darf sich jeder gegen eine Corona-Impfung entscheiden. Er oder sie muss sich dann eben dauerhaft an Schutzmassnahmen halten, weil das Virus sonst freie Bahn hätte: Kranke, Tote und eine Überlastung des Gesundheitswesens wären die Folge.»
Es ist grosszügig von Dorer, dass er den Schweizern die «freie Wahl» lassen will. Was danach kommt, ist an Unsinn kaum mehr zu überbieten. Erstens sieht es ja so aus, als werden auch Geimpfte noch mit Maske herumlaufen müssen. Zweitens hat das Virus mit der Impfung überhaupt nicht weniger «freie Bahn». Ist es wirklich nicht zum Chefredaktor einer der grössten Zeitungen im Land vorgedrungen, dass die Impfung nicht die Ansteckung bekämpft – siehe oben? Und warum war unser Gesundheitssystem denn vor der Impfkampagne nie überlastet und sollte es dann, wenn vermutlich der grösste Teil der Bevölkerung geimpft ist, plötzlich sein?
Wobei Christian Dorer in einem Recht hat: Das Wort «Privilegien» ist falsch. Denn es geht um Grundrechte, die seit einem Jahr reduziert oder ganz ausgehebelt werden, von der Versammlungsfreiheit bis zur Wirtschaftsfreiheit. Erhält man diese zurück, ist das kein Privileg, sondern eine reine Selbstverständlichkeit. Gibt man sie einem Teil der Bevölkerung nicht zurück, ist das kein Entzug von Privilegien, sondern eine anhaltende Verletzung der Grundrechte. Impfung oder nicht hat damit herzlich wenig zu tun.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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