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Inkonsequenter Politmainstream

Pro staatliche Eingriffe – ausser beim Lebensrecht des Embryos

Die weitläufige Kritik am Urteilsentwurf des US-Supreme-Courts zur Abtreibung zeigt: Jene Kreise, die sonst sehr oft nach staatlichen Eingriffen rufen, haben eher wenig Respekt vor unschuldigem Leben. Dies demaskiert ihren Freiheitsbegriff.

Artur Terekhov am 10. Mai 2022

Letzte Woche sickerte – unter mutmasslicher Amtsgeheimnisverletzung der kritischen Gerichtsminderheit – ein Entwurf des US Supreme Court durch, wonach der Grundsatzentscheid „Roe v. Wade“ zur Abtreibungsthematik im Wesentlichen rückgängig gemacht werden sollte. Dadurch würde Abtreibung nicht US-weit verboten, sondern würde es wiederum den einzelnen 50 Bundesstaaten obliegen, zu entscheiden, ob und welche Restriktionen sie in Bezug auf Abtreibung erlassen wollen. Absehbar ist jedenfalls, dass republikanische Bundesstaaten eher „pro life“ sein werden, demokratische eher „pro choice“. Dies missfällt demokratischen und radikalfeministischen Kreisen derart, dass es bereits vor dem Urteilsspruch zu landesweiten Demonstrationen kommt, womit das Leaken des Urteilsentwurfs auch die Unabhängigkeit der Justiz bedroht.

Dass materielles Strafrecht in den USA – im Gegensatz zur Schweiz – weitgehende Sache der einzelnen Bundesstaaten ist, scheint in der gesamten Debatte die Gegnerschaft des Urteilsentwurfs kaum zu interessieren. Nun gut: Die Verfassung bzw. insbesondere gewisse Verfassungszusätze („amendments“) sind den Demokraten ohnehin schon lange ein Dorn im Auge, denn schliesslich sind Waffen – und nicht der Mensch im Einzelfall – grundsätzlich etwas Böses und „Hate Speech“ – was auch immer das genau sein soll – erst gar keine Meinung. Aber nach dem Covid-Notrechtsexzess der letzten zwei Jahre sollten wir vielleicht nicht nur mit dem Finger über den Atlantik zeigen, sondern auch hierzulande Defizite im Umgang mit der Verfassung, immerhin der obersten Rechtsquelle eines Landes zur strikten Begrenzung kompetenzlosen Staatshandelns, anerkennen und aufarbeiten. Dann nämlich erkennen wir politideologische Parallelen von Schweiz und USA.

In beiden Ländern zeigt sich nämlich ein ähnliches ideologisches Muster. In den USA sind es mehrheitlich Republikaner, welche (i) zumindest in der Tendenz für weniger staatliche Gesetze und (ii) damit auch weniger Covid-Restriktionen sind. Zugleich wollen (iii) gerade Republikaner eher das ungeborene Leben schützen und werden bei der Abtreibungsthematik von ihren Gegnern daher als unglaubwürdig bezeichnet, weil sie hier für einmal staatliche Restriktionen befürworten. Die Demokraten sind genau gegenteilig: Im Zweifel für mehr staatliche Gesetze, einschliesslich Covid-Restriktionen, bei der Abtreibung aber für alleinige Entscheidungsfreiheit der Frau. Nicht anders in der Schweiz: Die – von Agrarpolitik und Militär abgesehen – eher regulierungskritische SVP war von den grossen Parteien (auf „uns“ Libertäre gehe ich einmal nicht ein) die einzige, welche der bundesrätlichen Covid-Politik stets die Stirn bot. Unstreitig ist sie auch jene grosse Partei, welche am meisten abtreibungskritische Exponenten beherbergt. Der Mitte-Links-Mainstream ist hingegen auch bei uns das pure Gegenteil. Wieso nur? Ist die Abtreibung ein blinder Fleck der „bösen Rechten“ oder zeigen sich an jener ideellen Differenz auch tieferliegende ideologische und/oder rechtsphilosophische Unterschiede im gesamten Staatsverständnis?

Bei Lichte betrachtet ist letzteres der Fall: Geht man von einem liberal-minimalstaatlichen Staatsverständnis aus, hat der Staat die angeborenen und – von gewissen Schattierungen abgesehen – kulturunabhängigen Naturrechte Leib und Leben, Freiheit (die erst bei Rechten Dritter ihre Grenze findet!) und Eigentum gegen einwilligungslose Verletzungen oder ernste Gefährdungen (also nicht gegen jede Lappalie) zu schützen, wofür auch ein Minimum an Infrastruktur nötig ist. Ziel ist also allem voran die Vermeidung von Selbstjustiz, denn die angeborenen Rechte jedes Individuums sind blosse Abwehrrechte.

Jeder hat also ein Recht auf Leben, nicht auf Überleben. Einzig auf natürlicher (Eltern-Kind-Verhältnis) oder vertraglicher Basis entstehen weitere Pflichten. Das ist Freiheit und Eigenverantwortung bzw. Nachtwächterstaat. Geht man davon aus, dass ein Embryo bereits eine eigenständige Rechtspersönlichkeit hat, ist es nichts als konsequent, dass dieser vom Staat mit den Mitteln des Strafrechts geschützt wird. Genauso wie Menschen, die bereits den Mutterleib verlassen haben. Auf den Umstand, dass der Embryo noch nicht allein lebensfähig ist, kann es argumentativ nicht ernsthaft ankommen, müsste man sonst auch zweijährige Kinder oder Behinderte umbringen dürfen.

Auch der Fakt, dass ausser in strengkkatholischen Kreisen kaum jemand Verhütung ablehnt, nach einer Abtreibung aber viele Frauen mental leiden, dürfte aufzeigen, dass der Embryo halt nicht ein blosser Zellklumpen ist, wie dies einige Feministinnen gerne sagen. Ein Befürworter von Freiheit und Eigenverantwortung bricht hier seine Reflexionen ab. Embryo ist Leben, also ist staatlicher Schutz nötig. Mehr gibt es nicht zu diskutieren; das ist der negative Freiheitsbegriff. Ganz anders die sozialstaatsfreundlichen Vertreter des aktuellen politischen Mainstreams: Frei kann gemäss diesen nur sein, wer von der Gesellschaft in seiner freien Entfaltung genügend unterstützt werde. Es sind die anderen, welche dafür verantwortlich sind, dass es einem selber gut geht. Die Ungeimpften dürfen nicht – so tragischerweise auch die nicht gerade eigenverantwortliche Zürcher SVP-Regierungsrätin Natalie Rickli, deren Abwahl hoffentlich bereits nach einer Legislatur wieder bevorsteht – die Gesellschaft „in Geiselhaft nehmen“. Und schon gar nicht dürfe eine Nachlässigkeit bei der Verhütung zu langjährigen Pflichten für Eltern führen, die eigentlich gar kein Kind wollen. Das ist der positive Freiheitsbegriff – und damit das pure Gegenteil von Freiheit und Eigenverantwortung.

Die weltanschaulichen Differenzen sind damit im Kern begründet und bestehen mitnichten nur bei der Abtreibungsfrage. Der gesamte moderne Sozialstaat ist eine eigentliche Perversion der menschlichen Natur. Er schafft Abhängigkeiten ab Geburt (oder spätestens dem staatlichen Kindergarten) und führt dazu, dass Staatsmacht weniger kritisch hinterfragt wird. Diese Mechanismen kennt man sonst primär von Drogen. Allein so konnte sich das Unwort der Solidarität durchsetzen, in deren Namen man die Rechte anderer einschränkt, ohne selber Eigenverantwortung wahrzunehmen. Denn ehrlicherweise müssten viele Covid-Massnahmenfreunde sagen: „Ich esse oft und gerne Würste, Pommes und Berliner. Auch Rauchen gehört zu meinem Tagesprogramm. Nun will ich aber, dass die Gesellschaft mich vor einer Atemwegserkrankung schützt.“ Oder eine Frau mit Abtreibungswunsch: „Ich hatte Spass ohne Verantwortung. Aber die Last eines Kindes will ich gerade nicht tragen. Wie wunderbar, dass die arbeitende Bevölkerung über die Krankenkasse meinen Eingriff finanziert.“

Natürlich gibt es vereinzelt Frauen, die durch eine Vergewaltigung schwanger werden. Und sehr selten versterben auch nicht hochbetagte oder übergewichtige Personen an Covid. Dies ist aber eine Frage von Einzelfallbetrachtungen, gewiss aber nicht von politischen Grundsatzentscheiden für den statistisch überwiegenden Regelfall. An solche Selbstverständlichkeiten gilt es aus aktuellem Anlass zu erinnern. Denn sie zeigen auf, dass die Abtreibungsdebatte in den USA nur stellvertretend für den allgemeinen Niedergang von Eigenverantwortung ist – und ohne Eigenverantwortung besteht langfristig keine Freiheit. Daraus folgt auch, dass ohne grundlegendes Umdenken sich präventivstaatliche Übergriffe jederzeit wiederholen könnten.

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Autor/in
Artur Terekhov

MLaw Artur Terekhov ist selbstständiger Rechtsvertreter in Oberengstringen ZH.

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