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Ostschweizer Frauen in Wirtschaft und Politik

Sie suchte sich ihre Nische und bewirtschaftet diese erfolgreich

Die Jonerin Brigitte Bailer ist erfolgreiche Unternehmerin, Pensionskassenpräsidentin, erfahrene Dozentin, Familienfrau und Politikerin. Ein Porträt über eine Frau, die viel bewegt und zu deren Leidwesen in der Politik vieles viel zu langsam vorwärts geht.

Michel Bossart am 11. Januar 2023

Vor kurzem wurde sie zur St.Galler Handelsrichterin gewählt: Brigitte Bailer aus Rapperswil-Jona. Auch das noch, ist man versucht zu sagen. Bailer präsidiert nämlich neben der Führung ihres eigenen KMU im Bereich Beratung und Informatik den Stiftungsrat der Pensionskasse von fast vierzigtausend KMUs der Sammelstiftung Swiss Life, ist erfahrene Dozentin für Wirtschaftsinformatik, engagiert sich als ehrenamtliche Alumni-Präsidentin und politisiert für die FDP. «Daneben koche ich ganz gut», lacht sie und sei zu Hause auch für das Anwerfen der Waschmaschine und die Steuererklärung verantwortlich. Sitzt man ihr gegenüber, glaubt man ihr aufs Wort, wenn sie sagt: «Ich hatte immer vorig Energie.»

Aus einfachen Verhältnissen

Aufgewachsen ist Bailer in Rüti im Zürcher Oberland als Älteste von drei Geschwistern. Ihr grosses Vorbild war ihre damalige Klassenlehrerin: «Sie war Anfang 20, hatte weder Stimm- noch Wahlrecht aber unsere Klasse mit 32 Kindern voll im Griff», erinnert sie sich bewundernd. «Meine Eltern liessen mir für die damalige Zeit grosse Freiheiten», fährt die heute 60-Jährige fort: «1978 durfte ich als junges Mädchen allein ans Queen-Konzert ins Hallenstadion nach Zürich. Das Geld dafür verdiente ich im Landgasthof meiner Tante in der Nähe von Basel.» In guter Erinnerung sind ihr diese Schulferienwochen geblieben: «Für mein Sackgeld arbeitete ich jeweils sechs Tage von morgens bis zur Sperrstunde am Buffet und lernte nebenbei kochen.»

Bailer war ein Mädchen, das sehr gerne zur Schule ging. Gerade mal neun Prozent der jungen Frauen legten damals schweizweit eine Maturität ab. Die meisten kamen nicht wie sie vom Land, sondern aus den Städten. Doch weil niemand sie an ein Studium herangeführt hatte, ging sie nach der Matura einfach arbeiten. Da sie Mathematik mochte, entschied sie sich für den neu aufkommenden Bereich der EDV und fand Arbeit in einer Softwarefirma. «Bald wollte ich mehr können und beschloss, die damals an der Universität Zürich neu angebotene Fachrichtung Wirtschaftsinformatik zu studieren», erzählt sie. Noch während des Studiums bot ihr die damalige Bankgesellschaft auf Mandatsbasis die Projektleitung des applikatorischen Teils der Elektronischen Börse Schweiz, der heutigen SIX, an. «Alle Beteiligten leisteten damals Pionierarbeit, die den Finanzmarkt Schweiz in eine andere Liga katapultierte», resümiert Bailer.

Digitalisierung als Chance

Nach diesem Börsenprojekt war Bailers Pioniergeist geweckt: Mit ihrem heutigen Mann wurde sie zur Unternehmerin. Sie entwickelten eine Software für den internationalen Handel mit hochwertigen, zertifizierten Agrarrohstoffen wie Kaffee oder Kakao. «Mein Mann war der Innenminister und als Aussenministerin reiste ich durch die ganze Welt», erzählt sie.

Parallel zur unternehmerischen Tätigkeit bot sich ihr 1992 die Chance, eine Dissertation zu schreiben. Diese Gelegenheit liess sie sich trotz der vielen Arbeit im gut laufenden Geschäft nicht entgehen und wurde die erste Frau in der Schweiz, die Wirtschaftsinformatik studierte und darin auch promovierte.

Lange bevor Mobil- und Smarttelefone das Leben der Menschen grundlegend veränderte, hatte die Digitalisierung schon Einzug in viele Unternehmen gehalten. Anfangs des neuen Jahrtausends verlagerte Bailer ihren Fokus auf die Unternehmensberatung und begleitete grosse Unternehmen durch deren Digitalisierung. «12 Jahre lang durfte ich etwa die Geschicke der Bühler AG in Uzwil mitgestalten», nennt sie ein Beispiel. Oder die NZZ bei der Lancierung ihres aktuellen Onlineportals nzz.ch unterstützen. Oder bei der Umsetzung der digitalen Strategie für den Spitalverbund des Kantons St.Gallen mitwirken.

Vereinbarkeit von Familie und Beruf

«Mein Mann und ich wurden relativ spät Eltern», sagt die Mutter von zwei mittlerweile erwachsenen Kindern. Um die Jahrtausendwende hatten sie alle Hände voll zu tun, beschlossen aber, eine Familie zu gründen. Bailer sagt: «Wir waren uns einig, unsere Kinder die Mehrheit der Kindheitstage gemeinsam grosszuziehen». So habe es Zeiten gegeben, da arbeitete der eine von 6 bis 13 Uhr, die andere von 13 bis 20 Uhr und das an sieben Tagen in der Woche. «Es war unglaublich anstrengend, aber genauso erfüllend», sagt sie rückblickend. Glücklicherweise seien die Kinder gerne in die Kinderkrippe gegangen, schwieriger wurde die Kinderbetreuung dann im Kindergarten und während der Schulzeit.

Bleibt da bei einem so durchgetakteten Leben überhaupt noch Freizeit? Bailer lacht und sagt: «Bevor unsere Kinder geboren wurden, reisten mein Mann und ich regelmässig mit dem Motorrad durch Europa. Seit sie nun volljährig sind, tun wir das wieder.» Dabei sei sie die Sozia und lese die Karte, er fahre und lese den Verkehr. «Unser Motto lautet: Die Frau denkt, der Mann lenkt.»

Auch die Politik gestaltet sie mit

Als Vollblutunternehmerin steht Bailer politisch der FDP am nächsten. 2019 kandidierte sie auf deren Hauptliste im Kanton St.Gallen für den Nationalrat. «Ich hatte zwar politische Erfahrung auf nationaler Ebene, aber keine Ahnung von Wahlkampf», erinnert sie sich. Doch schon nach kurzer Zeit habe sie grossen Gefallen an der Wahlkampftour gefunden und sich darauf gefreut, auf Märkten, Messen, Podien und Veranstaltungen aller Art, neue Menschen aus dem ganzen Kanton kennenzulernen und ihre Anliegen aufzunehmen. Ihr politisches Engagement hat sie seit dieser Zeit noch verstärkt. Und bald steht erneut der Wahlkampf 2023 für den Nationalrat an. Auf die Frage, was ihr denn so gut an der Politik gefalle, sagt sie, ohne zu zögern: «Das Gestaltungsfeld ist riesig. Wenn man etwas erreichen will, muss man Mehrheiten schaffen, darin bin ich gut.» Und wenn ihr das mal nicht gelingt? «Wenn ich mal in der Minderheit bin, so frustriert mich das nicht. Frust verspüre ich eher über die Langsamkeit. Mir geht halt alles viel zu langsam. Aber», fügt sie an, «lieber eine langsame Demokratie als eine schnelle Diktatur!»

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Autor/in
Michel Bossart

Michel Bossart ist Redaktor bei «Die Ostschweiz». Nach dem Studium der Philosophie und Geschichte hat er für diverse Medien geschrieben. Er lebt in Benken (SG).

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