Wenn 2030 in der Ostschweiz Theater gezeigt wird, dann ist aber was los. Aber auch nur dann. Sonst haben wir es nämlich gerne ruhig hier.
Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine ergänzende Information zu einem im Printmagazin «Die Ostschweiz» publizierten Artikel. Das Magazin kann via abo@dieostschweiz.ch bestellt werden.
Das haben wir uns auch verdient. «Wir» das sind nämlich die, die den Karren in Tsüri seit Jahren und Jahrzehnten am Laufen halten: Werktätige, Büromenschen, Kaderleute. Wir sind von hier – oder sind in die Agglo Ost gezogen. Weil es in der Stadt enger und enger wurde. Oder teurer. Oder alles zusammen. In der Agglo Ost gibt’s noch einigermassen bezahlbare Bodenparzellen für Doppelverdiener mit Doppelgaragen: «Schatz, was ist das denn für ein mega grosser See?» «Ist doch egal, stell lieber die Hüpfburg für Justin-Jerome auf, sonst gibt der nie Ruhe.»
Diese Ruhe ist eine Art Spezialisierung unter den Agglos. Nach der Auswertung der Nationalfondsstudie «Reservate der Stille» im Auftrag von «Schweiz-Tourismus» wurde das Land in drei Regionen unterteilt: «Alpine Totenruhe mit Skilift» (Wallis und Graubünden), «Totale Ruhe» (Thurgau, St.Gallen, AI und AR) und «Rest der Schweiz». Im Rest der Schweiz ist s – logisch - nicht so still. Was nur bedingt in Dezibel messbar ist. Es ist mehr ein atmosphärisches Flirren…eine Art belebende Nervosität…jedenfalls ein Staunen…und hat etwas Be-Unruhigendes im besten Sinne. Man fühlt’s beim Arbeiten, im Gespräch, beim Über-die-Strasse-gehen, am Wurststand, im FitnessStudio, in den Strassencafés, an der Kasse, im Bus und an der Ampel.
Die Menschen freilich haben sich ihres Naturells entsprechend in den jeweiligen Regionen niedergelassen. Während im Rest der Schweiz eher miteinander gesprochen, bisweilen gestritten, sich auch wieder ausgesöhnt und politisiert wird, ist das für die Menschen in der «totalen Ruhe» nach Feierabend nicht gleichermassen von Bedeutung. Man will einfach in Ruhe gelassen werden.
Was mit Grund dafür ist, warum Justin-Jerome mit seinen Eltern hierhergezogen ist. Dass er freilich oft tagelang alleine in seiner Hüpfburg rauf- und runterspickt, um über die umliegenden Hecken und Zäune zu gucken, weiss er noch nicht. Seine Nachbarn sind alle alt. Reden wenig - und wollen in Ruhe gelassen werden.
Von Jubel, ja nahezu frenetischen Applaus unterbrochen wird diese nur bei Theater. Weil 2025 nämlich die Pro Helvetia unter ihrem Ex-Chef Pius Knüsel eine neue Studie in Auftrag gab. «Mit Herzblut gegen den Kulturinfarkt – eine neue Geografie der Landeskultur» ergab, dass auf dem Gebiet der «Totalen Ruhe» das Theater noch ganz Theater sein darf. So wie es eben immer war. Erleichterung machte sich breit. Bei denen auf der Bühne und denen davor. Endlich hatte man schwarz auf weiss, dass man eine Tradition pflegen durfte, die schon jahre-, ja, jahrzehntelang als Theaterkultur gepflegt worden war. Die war zwar nie Teil der eigenen Kultur - sondern immer eine Kopie einer Kopie von einer Kopie dessen, was schon 200 Jahre vorher durch das bildungsbürgerliche Europa wehte. Ein wenig Mailänder Scala, ein bisschen Wiener Kaffeehaus, Tingeltangel hier und ein bisschen Musical dort. Ballenberg der Bühnenkunst. Ergo kam auch das Publikum, das solches liebt, in Scharen: «Wo gibt’s denn noch sowas?» Na hier. In der totalen Ruhe In Agglo Ost. Man schaut sich in Ruhe an, was es andernorts schon lange nicht mehr gibt. «Der Besuch der alten Dame wird immer gegeben» (einzige Auflage der Geldgeber, dass es von verschiedenen Theatern nicht gleichzeitig gespielt wird). Von «Ewigi Liäbi» gibt es endlich die Bühnenversion für den Vereinsabend. Der Rest sind Musical-, Operetten- und gelegentlich Filmadaptionen aus den 50ern des letzten Jahrtausends. Das funktioniert bestens.
Justin-Jerome wird sie alle kennen. Wird sie mit seinen Grosseltern rauf- und runtergucken. Mama und Papa arbeiten im Rest der Schweiz – und gehen auch lieber dort in den Ausgang. Und irgendwann wird Justin-Jerome von seiner Hüpfburg hinabgestiegen und zu studieren beginnen. Auch im Rest der Schweiz oder sonst wo. Ob er danach wiederkommt, weiss er noch nicht.
Mit «Theater jetzt» macht der Ostschweizer Oliver Kühn seit über 20 Jahren Theater der anderen Art.
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