Ehemalige Mitglieder der ominösen Task Force, Politiker aus dem linken Spektrum: Sogar von hier kommen nun plötzlich Stimmen, die ein Ende der Massnahmen gegen das Coronavirus fordern. Es scheint Aufbruch zu herrschen.
Sie war lange die Stimme der Panik: Die wissenschaftliche Task Force zu Covid-19. Doch es geschehen Zeichen und Wunder: Einzelne ehemalige Mitglieder finden laut Medienberichten, es sei Zeit, mit den Massnahmen aufzuhören. Und sogar Politiker aus dem linken Spektrum sehen nicht, dass es so weitergehen kann, wie es der Bund unverdrossen vorhat. Das zeigt die Zeitung «20 Minuten» in einer Übersicht von Stimmen.
Darunter sind auch Leute, die einst als eigentliche Scharfmacher für einen gnadenlosen Kampf zur Eliminierung eines Virus, das sich nachweislich nicht eliminieren lässt, aufgerufen haben. Zum Beispiel Marcel Salathé (Bild oben), Professor an der Universität Lausanne. Er lässt sich auf 20min.ch wie folgt zitieren: «Wir sind jetzt praktisch an einem Punkt angekommen, an dem allzu einschränkende Massnahmen nicht mehr verhältnismässig sind.» Salathé konstatiert, dass die Geduld der Menschen langsam zu einem Ende kommen, ihn selbst eingeschlossen.
Das ist eine Offenbarung, die einem nur das abnötigt: Ehrlichen Respekt.
Aber er ist nicht der einzige. Aufgeführt wird auch das ehemalige Task-Force-Mitglied Marcel Tanner. Er befindet, die aktuelle Lage erlaube es, dass man nun zur «Normalisierungphase» übergehe, der Staat sich also punkto Verordnungen zurückziehe und zur Eigenverantwortung zurückfinde. Sprich: Die geltenden Massnahmen sollen aufgehoben werden.
Selbst ausgeprägt linke Politiker sekundieren das. Zum Beispiel Nationalrat Pierre-Yves Maillard: von der SP, gleichzeitig Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Er beruft sich auf die Drei-Phasen-Strategie des Bundesrats, in der klar festgehalten ist, dass die letzte Phase die Rückkehr zur Normalität ist. Diesen Zeitpunkt sieht Maillard jetzt ebenfalls gekommen,
Doch das Problem ist: Der Bundesrat hat auf die Task Force gehört, solange von dort Signale der Panik kamen. Nun, wenn selbst frühere Vertraute befinden, es sei Zeit, aufzuhören, setzt die Landesregierung offenbar auf andere Stimmen. Bundesrat Alain Berset hat sich auf die ominösen Mutationen eingeschossen, die angeblich alles wieder anders machen sollen. Obwohl die Wissenschaft es bis heute nicht schafft, klare Ansagen darüber zu machen. Ist die «Delta-Variante» nun ansteckender und gefährlicher als das Original oder nur ansteckender, aber ungefährlicher oder nichts von beidem? Niemand ist in der Lage, hier Klarheit zu schaffen, Berset hält aber daran fest, dass diese Mutation weitere Lockerungen unmöglich macht. Und da ohne Frage auch eine erneute Mutation festgestellt werden wird, sind wir gefangen in einem ewigen Kreislauf.
Was aktuell aber passiert, ist ein echter Paradigmenwechsel. Ein ausgeprägt linker Politiker wie Maillard wagt einen Vergleich, der noch vor kurzem als «Querdenkerargument» gebrandmarkt worden wäre (und den wir schon lange gemacht haben): Er verweist darauf, dass ein präventiver Schutz vor Tabakwerbung für Jugendliche kürzlich abgelehnt wurde, obschon Tabak vermutlich für weit mehr Todesfälle verantwortlich ist als Corona. Eine solche Politik sei nicht vereinbar mit den einschränkenden Massnahmen gegen das Coronavirus.
Auch hier gilt: Chapeau, Monsieur Maillard, für diesen Tabubruch.
Dazu kommen die bereits bekannten Stimmen wie die des St.Galler FDP-Nationalrats Marcel Dobler, der befindet: Nun, wo sich jeder gegen Covid-19 impfen lassen kann, der das will, gibt es keine Handhabe mehr für einschränkende Massnahmen für die Gesamtbevölkerung. Denn wir erinnern uns alle: Die Impfung wurde uns als Universallösung verkauft. Jetzt ist der Impfstoff flächendeckend verfügbar, und nach wie vor will der Bund die Gesellschaft einschränken.
Doch der Bundesrat würde an den nächsten olympischen Winterspielen ohne Frage eine Medaille in der Disziplin «Slalom» gewinnen. Denn einst hiess es unmissverständlich: Sobald alle erwachsenen Personen Zugang zur Impfung haben, ist es Zeit für den Status «Normalität». Das ist nun der Fall, aber jetzt argumentieren Berset und Co. mit den gefährlichen Mutationen, über die keiner wirklich Bescheid weiss und bei denen bis jetzt jeder Nachweis für eine erhöhte Gefährdung fehlt. Argument Nummer 2 – wenn man das wirklich «Argument» nennen will – ist das Risiko durch Ferienrückkehrer, von denen man aus dem Herbst 2020 bereits weiss, dass keine Gefahr droht.
Dass nun selbst frühere Panikmacher festhalten, es sei an der Zeit, mit allem aufzuhören, ist ein gutes Signal. Ob es durchdringt, ist eine andere Frage. Denn der Bundesrat hat längst Gefallen daran gefunden, den Kurs zu diktieren.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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