Da stehe ich nun, oben auf einem der vielen Appenzeller Höger. Zu Fuss bin ich gekommen, von zuhause aus. Und frage mich plötzlich: Spaziere ich eigentlich noch? Oder wandere ich schon? Die Antwort ist polizeirechtlich relevant.
Denn Spazieren, das gehört nach allgemeiner Ansicht – auch jener des Bundesrates, wenn ich recht verstanden habe – zum derzeit gerade noch Erlaubten. Das lateinische spatium, von dem der Spaziergang abstammt, bezeichnet ja einen bestimmten (Zwischen-)raum, eine Umlaufbahn, oder das, was man im Militär als «Ausgangsrayon» kennt.
Derweil das Wandern auf jeden Fall behördlich verpönt und sogar vom sanften Dauer-Wanderer Nik Hartmann als «dämlich» beschimpft wird. Denn Wandern, das ist laut den Wörterbüchern ja bereits eine länger dauernde Tätigkeit, hat ein bestimmtes Ziel, und war einst die gewöhnlichste aller Reiseformen. Merke also: Spazieren ist erlaubt, Wandern aber auf jeden Fall zu unterlassen! Nur: Wo ist der Unterschied? Ab wann mache ich den verhängnisvollen Schritt vom Spaziergänger zum Wanderer? Die Frage nagt zurzeit an manchem Gewissen hierzulande.
Denn Wandern, das ist in Zeiten von Corona ein Akt des öffentlichen Ungehorsams geworden. Verantwortungslos, je nachdem sogar strafbar. Für die Behörden ohnehin, für die Medien und die Romands ein unhinterfragtes Vergehen, und für die Deutschschweizer Rentnerin ebenfalls, die mit gezücktem Telefon hinter dem Vorhang auf alles lauert, was unter ihrem Fenster vorbeizieht. 40 bis 50 solcher Verdachtsmeldungen, so lese ich, bewegen allein die St.Galler Polizei täglich zum Ausrücken, über die Ostertage sollen es sogar über 150 solcher – sagen wir es etwas deutlicher – Denunziationen gewesen sein.
Nein: Auch als Familienvater mit Anhang oder als über 65-Jähriger lasse ich mir den Ausgangsrayon nicht vorschreiben! Auch nicht von der telefonbewehrten Hilfspolizistin hinterm Vorhang. Und zu wem ich den Sicherheitsabstand einhalte und zu wem nicht, kann ich noch ganz allein bestimmen. Den brauche ich jedenfalls nicht zu den Meinen, mit denen ich den Tisch und vielleicht sogar das Bett teile.
Es wird eine Zeit nach Corona geben. Und wetten: Es wird Menschen geben, die der Zeit nachtrauern, in der man einfach nur die Anweisungen des Bundesrats befolgen und das Ausgehverhalten der Nachbarn polizeilich sanktionieren lassen konnte.
Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.
1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.
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