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Schattenseiten der Rockmusik

SRF und die Groupies: Wie der Fernsehsender ein Thema für sich entdeckte

Der «Fall» des Rockmusikers Till Lindemann scheint Geschichte zu sein. Dies hinderte unser Fernsehen aber nicht daran, sich fast bis zum Exzess an der Geschichte zu laben – und dabei nicht nur guten Journalismus abzuliefern. Eine Polemik unseres Kolumnisten und Autors Thomas Baumann.

Thomas Baumann am 11. September 2023

Die Berliner Staatsanwaltschaft hat das im Juni aufgenommene Ermittlungsverfahren gegen den Sänger Till Lindemann eingestellt. Gegen ihn war in den Medien der Vorwurf sexueller Übergriffe gegenüber Frauen erhoben worden.

Wie verschiedene Medien berichteten, habe die Staatsanwaltschaft verlauten lassen, dass entsprechende Strafanzeigen von Seiten dritter, «nicht am Tatgeschehen beteiligter» Personen gestellt worden seien. Wie Srf.ch unter Bezugnahme auf die Berliner Staatsanwaltschaft berichtete, hätten die zuerst von der Nordirin Shelby Lynn anlässlich eines Rammstein-Konzerts in Vilnius erhobenen Vorwürfe «keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte für Sexualstraftaten durch den Beschuldigten» ergeben. Die Angaben einer weiteren Zeugin «blieben in der Vernehmung zu unkonkret». Sie habe keine Vorfälle geschildert, die sie selbst erlebt habe. Die von ihr geschilderten Umstände stellten entweder Rückschlüsse aus Beobachtungen dar oder seien ihr von anderen geschildert worden.

Dubiose Zeugenaussagen

Damit hätte man es eigentlich auf sich beruhen lassen können. Dennoch hinderte selbst der Auftritt solch dubioser Zeugen – von SRF selbst rapportiert – den Sender nicht daran, gleichentags einen Text mit dem Titel «Warum hat gegen Till Lindemann niemand Klage eingereicht?» nachzuschieben.

Wäre dieser Titel tatsächlich neutral und nicht etwa anklagend gemeint, dann wäre die naheliegende Antwort auf die Frage schnell gegeben: Weil tatsächlich nichts strafrechtlich Relevantes vorgefallen ist.

Diese Möglichkeit war SRF jedoch keine einzige Silbe wert – man konzentrierte sich stattdessen umgehend auf die Hypothese, dass zwar etwas vorgefallen sein könnte, die mutmasslichen Opfer aber unter Kosten-Nutzen-Erwägungen davon absahen, deswegen Klage einzureichen.

Dabei tat SRF das, was Journalisten immer tun, wenn sie sich nicht vertieft mit dem Thema beschäftigen wollen oder können: Sie befragen andere Journalisten. Die interviewte Journalistin wusste zu berichten, dass es «nicht nur die juristische Sicht auf diesen Fall, sondern auch noch die gesellschaftliche» gäbe. Ebenso gebe es eine «moralische und ethische Ebene». Auf der gesellschaftlichen Ebene hätte es viel «victim blaming» gegeben, viel «Frauenhass».

«Victim blaming» ist nicht Frauenhass

«Victim blaming», also dem Opfer einer Straftat eine Mitschuld zu geben, ist tatsächlich eine üble Unsitte. Der Vorwurf des «Frauenhasses» hingegen wird im Interview einfach so daher geworfen – ohne einen einzigen Beleg dafür zu nennen.

«Frauenhass» ist heute ein ebenso beliebter wie beliebiger Vorwurf. Und weil sich – aus verständlichen Gründen – niemand dem Vorwurf aussetzen will, Frauenhass zu rechtfertigen, gibt es kaum Widerspruch gegen die inflationäre Verwendung des Begriffs: «victim blaming» - Frauenhass. Einer Frau nicht sofort alles glauben: Frauenhass.

Dabei tat nicht nur die interviewte Journalistin fröhlich einen Sprung vom Quantitativen ins Qualitative, wo auf «victim blaming» unvermittelt «Frauenhass» folgt, sondern auch der Interviewer von SRF: Aus «mutmasslichen Opfern» wurden flugs «Opfer».

Tatsächlich war der sogenannte Rammstein-Skandal für SRF ein gefundenes Fressen. An vorderster Front dabei bei der – mehr oder weniger selektiv verzerrten – Aufarbeitung der Ereignisse: SRF-Musikredaktorin Elisabeth Baureithel.

Perpetuum Mobile der Skandalisierung

Bereits am 6. Juni dozierte sie: «Lehren aus Rammstein-Skandal». Skandal? Viel eher ein Medienhype: Zuerst wird ein Sachverhalt skandalisiert – und dann schreibt man über den vermeintlichen «Skandal». Genau so funktioniert das Perpetuum Mobile des Journalismus: Aus nichts schaffe eine Geschichte, beziehungsweise einen Skandal.

Weiter geht's: «Machtmissbrauch ist ein Grundpfeiler des Rock- und Popsystems» - der Titel selber in Anführungszeichen. Scheinbar ein Zitat, die Anführungszeichen belegen es ja nur zu klar. Aber, dass dies in Wirklichkeit die Message des Textes sein soll, ist nur allzu offensichtlich.

Der Beitrag selbst: Ein Interview, wiederum mit einer Journalistin. Dabei wird diese aber feierlich als «Kulturwissenschaftlerin» bezeichnet. Macht sich halt besser. Wikipedia ist da präziser: «Sonja Eismann ist eine deutsche Journalistin und Kulturwissenschaftlerin» - in dieser Reihenfolge.

Vom Machtmissbrauch

Die erste Frage hat es dabei in sich: «Ist [es] seit jeher Bestandteil des Rock- und Popbusiness, dass männliche Stars ihre Machtposition gegenüber Groupies ausnutzen?». Worauf Sonja Eismann antwortet: «Das ist quasi einer der Grundpfeiler des Pop- und Rocksystems.» Das vermeintliche Zitat im Titel: Halb eine Aussage der Interviewerin, halb eine Aussage der Interviewten, die ihr darüber hinaus quasi in den Mund gelegt wird.

Weitere Stücke aus der Feder der SRF-Musikredaktorin: «Der Rammstein-Skandal: Wie weiter mit der Groupie-Kultur?», «So toxisch ist die Groupie-Kultur wirklich», «Gibt es überhaupt männliche Groupies?». SRF hat ganz offensichtlich das Thema Groupies für sich entdeckt.

Von männlichen Groupies

Die Frage «Gibt es überhaupt männliche Groupies?» ist dabei ähnlich dumm wie die Frage: «Gibt es überhaupt homosexuelle Rockmusiker?». Doch daran will SRF nicht denken – man beschränke sich auf die «heteronormative Star-Fan-Beziehung». Fazit, trotz allem: «Es gibt sie – die männlichen Groupies», wenn auch nur vereinzelt. Zudem würden diese oft wohl eher als «Stalker» wahrgenommen.

Als Begründung für die eher kleine Zahl männlicher Groupies müssen einmal mehr die üblichen Stereotypen herhalten: «Männer als Eroberer, Frauen als Beute» und – reichlich trivial – «Männer sind lieber Stars als Groupies». Will uns die Journalistin damit etwa sagen, dass die Präferenzen bei Frauen anders gelagert sind – dass sie womöglich lieber Groupies als Stars seien? Diese Schlussfolgerung läge angesichts der Formulierung zumindest auf der Hand.

Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht

Das längste Stück ist ein Bericht über die Autorin Roxana Shirazi. Die Einleitung, wie gehabt, immer hart am Rand zu einer Verschwörungstheorie segelnd: «Hinter dem Mythos versteckt sich ein System von Macht und Manipulation.»

Shirazi ist ein ehemaliges Groupie. Mit Mitte 20 hatte sie ihre erste Affäre mit einem Rockmusiker – und später noch etliche weitere. «Anfang der 2000er-Jahre brach sie die Groupie-Regel-Nummer 1 und verliebte sich.» Eine Zwischenfrage sei an dieser Stelle erlaubt: Wenn die bösen Rockmusiker Groupies für Sex ohne Liebe benutzen, tun Groupies dann nicht genau dasselbe, wenn sie Rockmusiker ebenfalls für Sex ohne Liebe benutzen? Oder wie die Band Trio sang: «Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht. Aha!»

An dieser Stelle kommt wieder die unvermeidliche Sonja Eismann zu Wort: «Weibliche Fans werden immer als emotional naiv wahrgenommen, männliche eher als Fans der Sache und nicht als blinde Bewunderer eines Idols. […] Bei [männlichen Fans] geht es stattdessen darum, dass sie eine tolle Expertise haben, alle Gitarrenriffs und Songs kennen und irgendwelche Spezial-Vinylpressungen zu Hause haben.»

Rockmusiker sind nicht dumm

Gemach! Wenn Rockmusiker Sex mit Groupies haben, dann mögen sie diese wie Wegwerfware behandeln, aber sie haben zumindest ein Interesse an ihnen – und sei es nur ein sexuelles.

Wenn aber irgendein männlicher Fan aufkreuzt, der «alle Gitarrenriffs» kennt und «irgendwelche Vinyl-Spezialpressungen zu Hause» hat, glaubt da irgendjemand, ein Rockstar würde sich für einen solchen Burschen interessieren? Aber hallo?!

Da steht man also mit seiner Band vor einer Schar von 10’000 oder mehr Leuten, die einem zujubeln, die voll in Ekstase sind, und soll tatsächlich entzückt sein ab einem Würstchen im Backstage-Bereich, das eine «tolle Expertise» der Band hat?

Reines Marketing

Nein, nein und nochmals nein. Es ist natürlich eine reine Marketing-Geschichte, dass solchen Fans gelegentlich eine Audienz bei der Band gewährt wird – mehr nicht. Dadurch werden diese ebenso wenig Teil des Rock'n'Roll-Lebens wie ein Groupie, das in einem Tourbus vernascht und eine Stunde später wieder ausgespuckt wird.

Dass es genau der Fan ist, der «alle Gitarrenriffs» kennt, der eine «tolle Expertise» der Band hat, ist dabei natürlich dem Marketing geschuldet. So wird ein Anreiz für die Fans geschaffen, sich mit der Band zu beschäftigen, jede Menge Devotionalien der Band zu kaufen. Und so die Kassen der Band klingeln zu lassen.

Die im Artikel insinuierte Idee, dass es nicht nur ein Machtgefälle zwischen Musikern und Fans, sondern auch noch zwischen männlichen und weiblichen Fans gebe, wo erstere am Rock'n'Roll-Leben der Band teilhaben dürften und letztere nicht, ist somit völliger Mumpiz. Bei Groupies beschränkt sich das Interesse wohl meist auf Sex – aber es ist immerhin eine Form von Interesse.

Der männliche Fan im Backstagebereich ist hingegen sicher kein sehnsüchtig herbeigesehnter «Bruder im Geiste des Rock'n'Roll», sondern für den Rockstar bloss eine lästige Pflichtübung aus rein kommerziellen Überlegungen. Etwas mehr analytischer Sachverstand anstatt romantischer Verklärung würde SRF gut anstehen – und den Sender hoffentlich davor bewahren, reichlich naive Schlussfolgerungen zu ziehen.

(Symbolbild: Depositphotos)

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Autor/in
Thomas Baumann

Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.

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