Der Bundesrat verkaufte das seit 2016 geltende, neue Epidemiengesetz als Muss, weil die Kantone allein eine weitflächige Krankheit angeblich nicht bekämpfen können. Kantonale Unterschiede der Covid-Bildungsmassnahmen zeigen jedoch: Föderalismus funktioniert.
Und er verlangsamt Machtausbauprozesse nach Vorbild des zentralistischen EU-Auslands.
Während Österreich per 01.02.2022 nun tatsächlich eine flächendeckende (!) Impfpflicht unter Strafandrohung plant, erscheint die Ostschweiz geradezu als Hort der Freiheit. So gilt beispielsweise im gesamten St. Galler Schulbetrieb – Volksschule und Gymnasien – seit dem 8. November keine Maskenpflicht mehr. Ebenso entfallen ist das klassenbezogene Contact Tracing für Volksschule und Sekundarstufe I. Einzig auf der Sekundarstufe II (Gymi und FMS ab 16 Jahren) wird es noch praktiziert. Im Übrigen finden nur noch auf einzelfallweise Anordnung Ausbruchstestungen statt: Grundsatz ist, dass auch bei positiven Fällen in Schulklassen keine Quarantäne mehr angeordnet wird.
Das von Regierungsrat Stefan Kölliker/SVP präsidierte St. Galler Bildungsdepartement begründete dies damit, dass die Ansteckungszahlen seit Sommer stark rückläufig seien. Und: „Andererseits stützt sich der Bildungsrat auf die Erkenntnisse aus dem Austausch zwischen Fachpersonen aus Medizin und Bildung. Demzufolge infizieren sich Kinder zwar, werden aber kaum krank. Sie leiden jedoch stark unter den Auswirkungen der Massnahmen im schulischen Alltag. […] Jugendliche bis 16 Jahre sollen darum weitestgehend von Massnahmen ausgenommen werden.“
Dies klingt fast 1:1 wie die Worte der Kinderärztevereinigung Pädiatrie Schweiz, welche bereits im September auf die sehr geringe Relevanz von Kindern im Zusammenhang mit Covid hingewiesen sowie die massnahmebedingten, entwicklungspsychologischen Sekundärschäden deutlich kritisiert hat. Ein Österreicher, der sein Hirn noch nicht an die Regierung verkauft hat, dürfte die Welt nicht mehr verstehen, soll doch in Vorarlberg, das immerhin an den Kanton St. Gallen grenzt, ab Februar 2022 die Verweigerung der Spritze bestraft werden. Diese Diskrepanz ist besonders plakativ und demaskiert die evidenzfreie Natur der machtgeilen Österreicher Pläne von Neukanzler Schallenberg. Sie soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass andernorts der Schulalltag viel unlustiger ist.
Denn während in St. Gallen die Worte von Kinderärzten auf fruchtbaren Boden gefallen sind, praktiziert der Kanton Zürich ein ziemlich hartes Regime. Die auf Antrag der Bildungsdirektorin Steiner/Die Mitte, ihrerseits ehemalige Staatsanwältin, beschlossene regierungsrätliche Verordnung sieht für Zürcher Schulen ein weitgehendes Testregime vor, wobei im Falle positiver Pool-Testresultate sogar eine Maskenpflicht selbst für 6-Jährige (!) ausgesprochen werden muss. Zudem gilt für SekundarschülerInnen sowie Lehrpersonen mit ärztlichem Maskenattest ein eigentlicher Testzwang und braucht es keine Einwilligung mehr für die rein präventiven Repetitivtests in der Schule. (Das Bundesrecht fordert in Art. 36 EpG aber einen erhöhten Ansteckungsverdacht als zwingende Voraussetzung für einen medizinischen Einzeltest ohne Einwilligung einer Person.) Diese im interkantonalen Vergleich sehr weitgehende Regierungsratsverordnung bildet aktuell Gegenstand einer gerichtlichen Überprüfung durch das Zürcher Verwaltungsgericht, wobei – so viel sei transparenzhalber offengelegt – der Autor dieser Zeilen Rechtsvertreter der betroffenen und vom Verein Lehrernetzwerk unterstützten Beschwerdeführer ist.
Wie kommt es also zu diesen erheblichen kantonalen Unterschieden bei den Covid-Massnahmen im Bildungsbereich? In rechtlicher Hinsicht ist die Antwort trivial: Nach Art. 2 Abs. 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage bleiben gemäss Bundesrat die Kantone für Restriktionen im Bildungswesen zuständig. Es handelt sich um einen echten Vorbehalt zugunsten der Kantone, welcher trotz nationaler Zuständigkeit den Kantonen eigene Restspielräume einräumt. Aber genug Juristerei: Das Schulwesen ist nämlich bestes Beispiel, um den hohen staatspolitischen Wert des Föderalismus zu betonen.
Denn wenn heute oft abwertend vom „Kantönligeist“ gesprochen wird, gilt es nämlich daran zu erinnern, dass das Hauptziel des Föderalismus kein Wildwuchs möglichst viel unterschiedlicher Vorschriften ist. Vielmehr beruht der Grundgedanke der föderalistischen Schweiz auf dem Glauben an dezentrale Machtstrukturen – d.h landesweit soll der Bund nur regeln, was man explizit an diesen überträgt. Umgekehrt sind die Kantone für den ganzen Rest zuständig – wobei seit dem 1. Weltkrieg die Anzahl Bundeskompetenzen stets gewachsen und der Spielraum der Kantone geschrumpft ist. Diese Entwicklung ist fast direkt proportional zum Wachstum des Staatsapparats.
Denn der Föderalismus möchte nicht nur, dass einzelne Landesregionen eigenen – kulturellen und anderweitigen – Besonderheiten Rechnung tragen können. Sondern er beruht auf dem Gedanken, dass dezentrale Machtstrukturen die Macht Einzelner begrenzen und auf weit mehr Personen verteilen, sodass sich Machtmissbrauch für die Regierenden weniger lohnt, weil diese ja weniger Macht haben. Zudem wird der Ideenwettbewerb gefördert, wenn ein Land nicht zentral gelenkt wird, sondern sich 26 teils verschiedene Lösungsansätze gegenüberstehen. Konkret: Ex-Staatsanwältin Steiner ist eine Begründung schuldig, warum sie anders agiert als Kantonsnachbar Kölliker. Folglich setzt sich seltener purer Zwang, sondern eher kreative Intelligenz durch. Klar: Föderalismus birgt auch Risiken von lokalem „Chlüngel“, doch den gibt es in der zentralistischen EU erst recht. Nota bene auch vor den menschenverachtenden Impfpflicht-Plänen Österreichs. Sozialstaat vor Freiheit ist schon länger EU-Maxime.
In den letzten 20 Monaten hat sich der Autor dieser Zeilen oft gefragt, wie die schweizerischen Covid-Massnahmen wohl ausgesehen hätten, wenn heute nicht das totalrevidierte, erst seit 2016 in Kraft stehende Epidemiengesetz gelten würde, sondern die frühere Fassung, welches die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten weitgehend den Kantonen überlassen hat. Ziemlich sicher wären die Massnahmen weniger restriktiv ausgefallen – ohne dass es zu signifikant mehr Todesfällen gekommen wäre. Gesundheitspolizeiliche Massnahmen wären ohne zentrale Panikstelle zu Bundesbern weit weniger von politischem Aktivismus geprägt gewesen („mer sött doch öbis mache“), sondern hätte viel mehr Spielraum für eigentlichen Ideenwettbewerb bestanden.
Nicht nur führt Dezentralismus meist zu weniger Machtmissbrauch seitens Berufspolitikern, sondern besteht überhaupt erst eine Vergleichsbasis, verschiedene Lösungsansätze gegeneinander abzuwägen. Ursache und Wirkung halt. Es ist ja kaum bestreitbar, dass sich seit dem weitestgehenden Entfall der St. Galler Covid-Schulmassnahmen mitnichten Kindersärge am Strassenrand stapeln. Dass solche Horrorbilder auch nicht im Interesse des dortigen Bildungsdirektors Kölliker lägen, ist ebenso offensichtlich wie der Umstand, dass der Kinderärzteverein Pädiatrie Schweiz aus seriösen Medizinern besteht und nicht aus esoterischen Zeitgenossen, die Krebs mit Kartenlegen behandeln möchten. Es ist bedenklich, dass man auf solche Banalitäten überhaupt hinweisen muss, doch auch dies ist symptomatisch für eine zentralstaatliche Risikobekämpfung. Mehr Mainstream und Befehlskultur, weniger Empirie und freier Ideenwettbewerb.
Im Vorfeld der Referendumsabstimmung von September 2013 warb der Bundesrat fürs neue EpG, indem er behauptete, eine Krankheit würde nicht an den Kantonsgrenzen haltmachen, weshalb es mehr bundesrätliche Kompetenzen brauche. Kein Wort darüber, dass ein Virus auch nicht an den Landesgrenzen haltmacht und das bundesrätliche Argument an sich sinn- und zwecklos ist. Ebensowenig nachvollziehbar ist, warum in Zeiten von Covid die Kantone zwar fähig sein sollten, Massnahmen fürs Bildungswesen oder Sexgewerbe zu beschliessen, nicht aber die Gastronomie oder den Detailhandel. Genau genommen war es also bereits 2013 das Bestreben nach mehr zentralistischer Staatsmacht und keineswegs der Gesundheitsschutz, welchem wir das heutige EpG einschliesslich der ausgebauten bundesrätlichen Kompetenzen zu verdanken haben.
Dass die Bundesbehörden des Gesundheitswesens zunehmend forscher auftreten, zeigt sich denn auch mitnichten nur in Covid-Fragen. So wollte die Heilmittelbehörde Swissmedic dieses Jahr dem „Gesundheitstipp“ (Zeitschrift des K-Tipp-Verlags) erstmals mittels – vom Verlag vor Bundesverwaltungsgericht angefochtener – Verfügung verbieten, einen Artikel online zu publizieren, welcher auf bisweilen schwere Nebenwirkungen gewisser Medikamente gegen Multiple Sklerose (MS) hinweist. Ein Angriff auf die Pressefreiheit, der – sollte er gerichtlich Bestand haben – ein massiver Maulkorb für den ganzen Medizinjournalismus wäre. Inmitten all dieser Ereignisse ist der St. Galler Schritt zur Schulnormalität geradezu ein Lichtblick. Und wie der Juristenaufruf gegen das Covid-Gesetz ein Zeichen, dass es noch kritische Denker gibt.
Nur abschliessend sei angemerkt: Ein „Nein“ zum Covid-Gesetz am 28. November hebt diverse der vorliegend kritisierten Kompetenzverschiebungen von Kantonen an den Bundesrat zwar nicht auf. Sehr wohl verhindert es aber einen weiteren Machtausbau des Bundesrats durch ein inhaltsarmes Blankettgesetz, seinerseits auch Grundlage für das Covid-Zertifikat. Letzteres kann – wie der promovierte Jurist Kaspar Gerber zurecht erkannt hat – auch nicht in Endlosschlaufe als milderes Mittel zu neuen Lockdowns angepriesen werden. Ausser die Schweiz will tatsächlich zu Österreich 2.0 werden. Dann aber müsste man ehrlicherweise diverse angeborene Grundrechte abschaffen. Ein Mensch mit Hirn kann dies kaum wollen.
MLaw Artur Terekhov ist selbstständiger Rechtsvertreter in Oberengstringen ZH.
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