… wir folgen. - Wollen wir Bürgerinnen und Bürger oder Untertaninnen und Untertanen sein?
Seit dem 16. März 2020 regiert der Bundesrat mittels Notrechts und auf Grundlage des Epidemiengesetzes, welches das Stimmvolk in der Referendumsabstimmung vom 22. September 2013 mit 60 Prozent angenommen hat. Ob die von oben verordneten Massnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise wirklich alle sinnvoll und notwendig waren und sind, wird sich zeigen.
Zumindest geben die für den 6. Juni 2020 verlautbarten Lockerungen Anlass zur Hoffnung für eine allmähliche «Normalisierung» des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens. Ungeachtet dessen bleibt ein fahler Nachgeschmack. Hat doch die Bevölkerung den bundesrätlichen Anordnungen mehrheitlich ohne Wenn und Aber Folge geleistet. Dies birgt demokratiepolitischen Sprengstoff.
Im Anfang war der absolute Monarch
Von einigen Ausnahmen wie zum Beispiel der attischen Demokratie oder der Römischen Republik abgesehen, wurde die Mehrheit der Menschen über Jahrtausende hinweg von einer privilegierten Minderheit regiert. Die Herrschaft der Wenigen über die Vielen wurde oftmals durch Abstammung und göttliche Ordnung legitimiert und entsprechend rechtlich kodifiziert. In absolutistischen Herrschern wie beispielsweise König Ludwig XIV. in Frankreich sollte diese Staatsform ihren Höhepunkt feiern. Dies ging solange gut, als die Wenigen die ihnen anvertrauten Aufgaben zufriedenstellend zugunsten der Vielen erfüllten.
Liberté, égalité, fraternité
Im Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 kulminierten Unzufriedenheit und Unbill der Beherrschten über die Herrschenden. Letztere hatten ihre Verpflichtungen gegenüber ihren Untertaninnen und Untertanen schon über einen längeren Zeitraum vernachlässigt. Die Revolutionärinnen und Revolutionäre fackelten im sprichwörtlichen Sinne des Wortes nicht lange: Das Königreich Frankreich ging in Flammen auf und König Ludwig XVI. und Marie-Antoinette verloren ihren Kopf.
Die Umwälzungen, welche die Französische Revolution in ganz Europa zeitigen sollte, können nicht hoch genug eingeschätzt werden. Zur Gründung der modernen Schweiz 1848 durch aufgeklärte bürgerlich-liberale Politiker wie den ersten Bundespräsidenten Jonas Furrer oder den Hauptredaktor der ersten Bundesverfassung Johann Konrad Kern wäre es wohl nicht gekommen.
Bürgerinnen und Bürger fordern den Staat heraus
Darauf, dass ein Staatswesen langfristig nur bestehen kann, wenn die Citoyennes und Citoyens dessen Ordnung als legitim erachten, habe ich schon in meiner vergangenen Kolumne hingewiesen. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass es eine solche Ordnung im Unterschied zu nicht egalitären Staatswesen erst dann gibt, wenn die Bürgerinnen und Bürger den Staat und seine Institutionen immer wieder herausfordern.
In der Schweiz vollzieht sich dies in vielerlei Hinsicht: Es werden Volksinitiativen lanciert, Referenden ergriffen, die Regierung durch das Parlament kontrolliert und Interessengruppen im Rahmen von Vernehmlassungen in die Gesetzgebung miteinbezogen. Der Staat ist den Citoyennes und Citoyens Rechenschaft schuldig und nicht umgekehrt.
Selbstaufgabe des Souveräns
Bedauerlicherweise und nicht erst seit der Corona-Krise scheint das Bewusstsein um und das Bedürfnis nach Mitbestimmung bei weiten Teilen der Bevölkerung zu schwinden oder gar nicht mehr vorhanden zu sein. Gerne werden noch mehr Regulierungen und Vorschriften in Kauf genommen, wenn nicht sogar noch gefordert, solange der Staat und seine Institutionen sich um möglichst viele und immer mehr Belange des täglichen Lebens kümmern und hierfür auch noch die Staatskasse öffnen.
Sogar angesichts der derzeitigen Krise und in diesem Zusammenhang mit einem Schuldenberg in Milliardenhöhe konfrontiert, soll jetzt zusätzlich à fonds perdu noch mehr Geld ausgegeben werden – frei nach dem Motto «Was machen ein paar Millionen mehr denn schon aus?». Dass diesem Irrglauben eines für alles zuständigen Staates insbesondere Angehörige der jüngeren Generationen anheimfallen, muss für die Zukunft bedenklich stimmen!
Mehr, nicht weniger Eigenverantwortung
Dass unseren Unternehmen zur Bewältigung der derzeitigen Lage das Instrument der Kurzarbeit und Bürgschaften sowie Kredite des Bundes zur Verfügung gestellt werden, ist nicht der «Gnade» des Staates und seiner Institutionen zu verdanken, sondern einer nachhaltigen, bürgerlichen Politik, ohne welche wir keine Schuldenbremse hätten.
Hinzu kommt: Bei den Geldern für die Kurzarbeit handelt es sich um von den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern wie auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einbezahlte Beiträge und nicht um staatliche Subventionen. Für die nahe Zukunft müssen wir uns entsprechend die Frage stellen: Wollen wir Bürgerinnen und Bürger oder Untertaninnen und Untertanen sein?
Michael Lindenmann (*1989) studierte Geschichte und Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft an den Universitäten Zürich und Basel. Nach Stationen bei Swisscom und einer Zürcher PR-Agentur zog es ihn wieder in die Ostschweiz, um für eine St.Galler PR-Agentur zur arbeiten. Nach sechs Jahren wechselte er als Head of Communications and Community Management zur St.Galler Agentur am Flughafen. Er lebt in der Äbtestadt Wil.
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