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Zeyer zur Zeit

Staatsversagen

Krankenhäuser am Anschlag? Schuld haben wir alle. In erster Linie aber die Politiker, die Beamten, die Staatsmanager.

«Die Ostschweiz» Archiv am 06. Dezember 2021

Die Nerven sind angespannt. So ranzt ein Chefarzt des Kantonsspitals St. Gallen (KSSG): «Das ganze Theater fängt wieder an und wird in den nächsten Wochen noch schlimmer.»

Hirslanden St. Gallen meldet: «Wir können die Intensivstation nicht aufstocken, dafür fehlt uns das Personal.» Das KSSG echot: «Man kann nicht einfach neue Plätze schaffen.»

Aber man kann Nebelpetarden zünden und Scheindebatten führen, um von einem gravierenden Versagen abzulenken. Diese potenzielle Katastrophe verursachen nicht die Impfmuffel.

Es ist vielfach erwiesen und braucht keine Diskussion mehr, dass die Durchimpfung einer Bevölkerung in keiner direkten Relation zur Anzahl Infizierter steht, die medizinische Versorgung brauchen. Abgesehen davon, dass selbst eine deutliche Steigerung der Anzahl Geimpfter an der aktuellen Situation nichts ändern würde.

Die aktuelle Situation ist, dass in St. Gallen laut BAG-Zahlen am 1. Dezember noch 3 Betten auf der Intensivstation (IS) frei waren, Im Thurgau und im Appenzell je 2, in Glarus 1, in Schwyz und Schaffhausen 0.

Der Anteil an Covid-19-Patienten auf den IS beträgt 26,9 Prozent schweizweit. Woran liegt denn diese Kapazitätsgrenze? Ganz einfach. Am 1. Dezember 2020 verfügte zum Beispiel St. Gallen über 72 Betten auf der IS. Am 1. Dezember 2021 waren es – 40.

Noch dramatischer sind die Zahlen beim westlichen Nachbarn. Ende April 2020 verfügte der Kanton Zürich über 410 Betten. Am 1. Dezember 2020 waren 217. Am 1. Dezember 2021 noch 183. Schweizweit nahm die Bettenzahl in einem Jahr von 1112 auf 883 ab.

Wie das? Wedeln wir den Rauchvorhang von zertifizierten und nicht zertifizierten Betten auch beiseite. Denn die bittere Wahrheit ist: es könnten problemlos 100, sogar 500 weitere Betten bereitgestellt werden. So wie das um Ostern 2020 bereits geschah. Die wären dann halt nicht zertifiziert, also nicht vollständig dem Schweizer Perfektionswahn unterworfen. Aber allen Ansprüchen eines Platzes mit Intensivpflege würden sie genügen.

Also Entwarnung? Nein. Im Gegenteil. Zurzeit hat es nur genügend Personal, um vielleicht maximal 800 Betten zu betreuen, schätzt der Leiter der Intensivstation des Unispitals Basel. Das bedeutet: nicht einmal alle vorhandenen und zertifizierten Betten können verwendet werden. Tendenz abnehmend.

So sagte auch der alptraumgeplagte Chef der Intensivstation des Inselspitals in Bern, dass er von seinen 36 zertifizierten Betten lediglich «28 betreiben» könne, «nächsten Monat noch 26».

Warum? Ganz einfach: es herrscht Pflegenotstand in der Schweiz. Es fehlen aktuell 12'000 Fachkräfte. Bis 2029 steigt der Bedarf an diplomierten Pflegefachleuten auf 43'400, ausgebildet werden 28'900.

Insgesamt werden Zahlen von bis zu 65'000 fehlenden Pflegekräften herumgeboten. Unbestreitbar ist: das ist ein gravierendes Problem. Unbestreitbar ist: das Problem existiert schon seit Jahren. Unbestreitbar ist: das Problem akzentuierte und verschärfte sich mit dem Ausbruch der Pandemie – vor fast zwei Jahren.

Unbestreitbar ist: ausser wohlfeilen Ankündigungen, Forderungen, markigen Behauptungen haben die Verantwortlichen für das Gesundheitssystem genau nichts unternommen. Es regiert der Konjunktiv «man sollte, man müsste, es wäre dringend geboten, es darf doch nicht sein, Blabla».

Der unermüdliche Einsatz der Pflegekräfte wurde wortreich gelobt, ihnen wurde mündlich unablässig auf die Schultern geklopft; die Bevölkerung entblödete sich zur Erbitterung der Pflegefachleute nicht, sich auf den Balkon zu stellen und zu klatschen.

Das war an Zynismus schwer zu überbieten, obwohl sich alle Klatscher unglaublich gut und solidarisch fühlten. Aber attraktive Entlöhnung, Notfallmassnahmen zum Aufstocken der Personaldecke, rigoroser Abbau von Bürokratie? Nichts, nichts und nichts.

Es war auch absehbar, dass die Bereitschaft des Pflegepersonals, Überstunden zu leisten, auf Urlaub zu verzichten, auch als Pensionierter freiwillig nochmals anzutreten, dass all das nicht beliebig ausgebeutet werden kann. Das geht vielleicht ein Jahr gut, im zweiten Jahr ist es bereits Quälerei, und am Ende des zweiten Jahres fehlen die Kräfte zum Weitermachen.

Im Gegensatz zum Ausbruch der Pandemie war das alles vorhersehbar. Tanzte den Verantwortlichen auf der Nase herum. Aber mehr als ein Niesen löste es nicht aus.

Stattdessen wirkt die aktuelle Debatte um Impfzwang oder nicht so, als ob man ein brennendes Haus löschen müsste. Aber es fehlt an Feuerwehrleuten, und die Einsatzleiter diskutieren lieber über die Wasserqualität, die richtige Löschtemperatur, welche Farbe die Schläuche haben müssen und welcher Wasserdruck wohl der richtige sei.

Wegen erwiesener Unfähigkeit schrumpfen die Intensivstationen in der Schweiz. Statt darüber zu debattieren, werden wieder Scheingefechte geführt, ob und ab wann Gaststätten und Vergnügungslokale geschlossen werden. Obwohl das niemals Brutstätten der massenhaften Ansteckung waren. Aber es ist halt ein sichtbares: wir tun was. Nur nicht das Richtige.

Es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei: es ist Staatsversagen. Es ist Regierungsversagen. Es ist Beamtenversagen. Es ist das Versagen aller verantwortlichen Manager im Gesundheitssystem.

Und es ist letztlich ein Versagen des Staatsbürgers, der sich lieber die Sicht vernebeln lässt, mal in die Hände klatscht, als den verantwortlichen den Marsch zu blasen.

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«Die Ostschweiz» ist die grösste unabhängige Meinungsplattform der Kantone SG, TG, AR und AI mit monatlich rund einer halben Million Leserinnen und Lesern. Die Publikation ging im April 2018 online und ist im Besitz der Ostschweizer Medien AG.

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