Viele von uns haben ihre Ferien im Sommer oder Herbst ohne echten Grund abgesagt oder sie frühzeitig abgebrochen. Das Bundesamt für Gesundheit wusste früh, dass die Reisequarantäne keinerlei Wirkung hat. Doch der am Sonntag aufgedeckte Skandal scheint keinen zu interessieren.
Würde man diese Geschichte einem Gast aus dem Ausland erzählen, würde er lächelnd abwinken und sie als einen Scherz abtun. So etwas in der Schweiz? Gar nicht möglich.
Theoretisch nicht. Aber wir sprechen von der Schweiz im Jahr 2020.
Unzählige Menschen haben seit dem Sommer ihre Ferien abgesagt oder verschoben, weil sie in ein «Risikoland» oder ein «Risikogebiet» reisen wollten, das vom Bannstrahl des Bundesamts für Gesundheit getroffen war. Wer dennoch dorthin ging, musste nach der Rückkehr in Quarantäne. Leute, die bereits dort waren, als ihr Ferienort auf die Liste rückte, mussten ihre Zelte abbrechen, wenn sie die Quarantäne verhindern wollten. Die Versicherungen ächzten unter Stornoanfragen, viele Reisende mussten die Kosten selbst tragen, und die Reisebüros blieben leer.
Und nun wissen wir: Das hätte nicht sein müssen. Das hätte nicht sein dürfen.
Die «NZZ am Sonntag» deckte in der letzten Ausgabe (Inhalt bezahlpflichtig) auf, dass die sogenannte «Reisequarantäne», der zehntausende Leute unterzogen wurden, für so gut wie nichts war. Sie trug nichts zur Eindämmung der Verbreitung des Virus bei. Laut Berechnungen der Kantone erkrankten nur gerade 0,4 Prozent der Menschen, die zwischen Juli und September in Reisequarantäne waren, auch wirklich an Covid-19. Das Bundesamt spricht von 0,87 Prozent. Es spielt keine Rolle, der Wert ist ohnehin marginal. Mindestens 99,1 Prozent der Menschen wurden ohne Anlass zu Hause festgebunden.
Das sind Zahlen, die das Bundesamt für Gesundheit von sich aus niemals publiziert hätte. Die NZZ am Sonntag hat auf der Basis des Öffentlichkeitsgesetzes die Herausgabe der entsprechenden Protokolle gefordert. Und diese zeigen noch viel mehr. Es gab kritische Nachfragen von Kantonen nach Sinn und Zweck dieser Reisequarantäne. Das BAG befand darauf, es gehe nicht nur um die evidenzbasierte Effizienz/Wirksamkeit, sondern um das «politische und psychologische Ziel/Effekt». Man erreiche damit, dass die Leute weniger reisen.
Sprich: Es ging also nicht darum, die Verbreitung des Virus zu reduzieren, sondern die Leute zu erziehen. Man wollte die Schweizer hier behalten. Auch wenn längst klar war, dass sie sich auf ihrer Reise keinem Risiko aussetzten. Denn die Zweifel am Nutzen der sogenannten Reisequarantäne aufgrund der absurd tiefen «Erfolgszahlen» kamen recht früh, das erwähnte Protokoll datiert vom 17. September. Doch das BAG setzte munter weiter Länder und Regionen auf die Liste und vermieste unzähligen Menschen auch die Herbstferien. Das ist nicht nachvollziehbar. Muss es aber auch nicht. Denn: «Es war eher eine politische Entscheidung», gibt das Bundesamt im Protokoll selbst zu.
Dass ein Bundesamt politische Ziele verfolgt, ist skandalös genug. Dafür haben wir eine Regierung. Dass man über Wochen hinweg tief in die Freiheitsrechte der Bevölkerung eingriff im Wissen, dass das keinen wirklichen Effekt auf die Pandemie hat, das ist aber der wirkliche Skandal.
Vor allem ein Skandal, der dringend juristisch aufgearbeitet werden müsste. Die Massnahmen, die wir derzeit erleben, beispielsweise die Restriktionen bei Gästen zuhause oder die Maskenpflicht oder eben auch die Reisequarantäne, sind keine, die einfach so eingesetzt werden dürfen. Sie müssen laut unserer Verfassung drei Kriterien erfüllen: Sie müssen für den angestrebten Zweck geeignet, notwendig und verhältnismässig sein.
Im Fall der Reisequarantäne kann man alle drei Punkte in Frage stellen. Eine Massnahme, von der schnell bekannt war, dass sie keinen Effekt haben wird, ist weder geeignet, notwendig noch verhältnismässig. Man fragt sich, ob beispielsweise die Reisebürobranche keine Juristen hat, die den Fall aufnehmen. Die Chance wäre gross, hier eine beispiellose Schadenersatzforderung geltend machen zu können. Denn immerhin wurde den Reisebüros ohne Not und Zweck ihr Geschäft grösstenteils verunmöglicht.
Aber auch die Gesamtwirtschaft müsste nun aufschreien. Denn die Quarantäne hat auch sie massiv belastet. Bisher ist der Protest ausgeblieben. Genau wie der mediale Widerhall. Die aufsehenerregende Entdeckung der NZZ am Sonntag hat ein oder zwei weitere Medien interessiert.
Die anderen Zeitungen benötigten den Platz vermutlich dringender für die Wiedergabe der aktuellen Fallzahlen.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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