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Aufruf an Schweizer Gemeinden

Trotz erstem Scheitern: Riklin-Brüder halten am analogen Fadennetz fest

Was, wenn neben dem Glasfasernetz plötzlich ein textiles Fadennetz existiert, das alle Haushalte einer Gemeinde oder Region wortwörtlich analog miteinander verbindet? Das ist die neue Kunstaktion der beiden Ostschweizer Konzeptkünstler Frank und Patrik Riklin mit dem Titel «Verfädelisierung».

Die Ostschweiz am 07. November 2019

«Analogisiert!» So die Devise der Riklins, die ihre Intervention als Ergänzung und Antwort zum Digitalisierungswahn sehen. Die ersten Gehversuche des analogen Fadennetzes fanden in Komplizenschaft mit dem Limmattal zwischen Zürich und Baden statt. Politiker und Behörden entschieden sich schliesslich gegen das Langzeitprojekt und wollten die kantonsübergreifende Vision nach der Testverlegung nicht mehr weiterverfolgen. Riklins rufen nun andere Schweizer Gemeinden oder Regionen auf, sich bei Interesse für die exklusive «partizipative Vernetzungsskulptur» zu melden. Zudem veröffentlicht der Fernsehsender 3sat kommenden Samstag, 9. November, 21.25 Uhr, erste Einblicke in die neue Idee der Riklin-Brüder.

Folgt nach der Digitalisierung die Analogisierung? Mit dieser Frage beschäftigen sich die beiden Ostschweizer Konzeptkünstler seit gut neun Monaten. Ihre neueste Intervention im gesellschaftlichen System des Alltags thematisiert die Auseinandersetzung mit der Zukunft. Laut Zukunftsforschern muss sich die Menschheit revolutionieren, wenn sie sich durch den unaufhaltsamen Digitalisierungsexzess (Künstliche Intelligenz) nicht selber abschaffen möchte. «Je digitaler die Welt, desto grösser die Sehnsucht nach dem Analogen», so die These der Riklins. Der Mensch «verdurste» in der Digitalität.

Fadennetz verbindet Haushalte

Die «Verfädelisierung» ist ein analoges «Schnurfaden-Netzwerk» (Unusual Community Network) an einem Stück, das Menschen mit einem textilen Faden ohne Unterbruch verbindet und durch alle Haushalte einer Gemeinde resp. Region gezogen wird. Der Faden ist eine Ressource aus Fadenresten aus privaten Haushalten und wird gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern gesammelt, zusammengeknöpft und schliesslich kollektiv verlegt. Die Fadeninstallation kennt prinzipiell keine Hindernisse. Der Faden zieht sich zum Beispiel unter dem Teppich eines Wohnbereichs in den Balkon hinaus, runter ins Blumenbeet durch eine Hecke und mittels Asphaltschlitz über die Strasse in den nächsten Haushalt, indem er sich an der Fassade hocharbeitet und schliesslich zwischen Flügel und Rahmen eines Fensters in den Innenraum weiter «verfädelt». Für eine professionelle «Verlegung» des Fadens werden Einzelpersonen, Schulklassen und Vereine instruiert. Die Sicherheit hat oberste Priorität; es besteht kein Risiko für Mensch und Tier.

Im Limmattal gescheitert

Dass die ursprünglich angedachte Kunstaktion im Limmattal gescheitert ist, liegt in der Natur der Konzeption, sagen die Brüder Riklin. Das Beteiligungsprojekt für eine kantonsübergreifende Konzeption fand seitens Politiker und Behörden keine Zustimmung. Die Idee der «Verfädelisierung» polarisiert, spaltet die Gemüter einer Bevölkerung und stellt die Sinnesfrage einer möglichen Utopie ins Zentrum.

Die Riklins bedauern den Abbruch im Limmattal, haben aber auch Verständnis dafür. «Kunst ist eine Option, keine Mission», so Frank und Patrik Riklin. Nun versuchen die Riklins, ihr Konzept der «Verfädelisierung» in eine andere Gemeinde resp. Region in der Schweiz zu transferieren. Das Konzept ist nicht ans Limmattal gebunden und kann überall stattfinden. Gibt es in der Schweiz überhaupt eine Gemeinde oder eine Region, die den Aufbau des analogen Netzwerks mitmachen würde? Um diese Frage zu beantworten, wenden sich die Riklin-Brüder mit einem Aufruf (siehe Kasten) an alle Schweizer Gemeinden und Regionen und suchen mögliche Alternativen für eine Komplizenschaft.

Polarisierung über Sinn oder Unsinn

Die Massnahme der «Verfädelisierung» verfolgt eine Kultur der analogisierten Vernetzung und ist ein Werkzeug zur Bildung von unüblichen Begegnungen. Das Fadennetz ist eine Art Analogie zum allgemeinen Vernetzungswahnsinn und kokettiert mit dem Irrsinn der mehrjährigen Verlegung des bereits wieder überholten Glasfasernetzes: Was kommt eigentlich nach der 5G-Vernetzung? Die künstlerische Intention, x-tausend verschiedene, zusammengeknöpfte Textilfäden in einer Region zu verlegen, ist scheinbar nutzlos. Anstelle Daten fliessen jedoch Emotionen durch den Faden. Sie erzeugen kommunikative Verbindungen und provozieren analoge Vernetzungen im Alltag der Menschen, indem sie Teil eines partizipativen Umsetzungsprozesses werden. Die vermeintlich absurde Arbeit löst soziale Teilhabe und Verbindungen aus, die bisher nicht existierten. Im weitesten Sinne ist das analoge Fadennetz auch «Türöffner» für kreative Freiräume im Kopf. Alle Situationen, Auswirkungen und Meinungen, ob Pro oder Contra, die durch das tatsächliche Verlegen des Fadens ausgelöst werden, erfüllen die konzeptuelle Idee der künstlerischen Absicht. «Allein der Diskurs über Sinn oder Unsinn macht Sinn», sagen die Riklin-Brüder.

Plädoyer für die Re-Humanisierung

Die Riklins sind überzeugt: «Die Region, die sich verfädelisiert, ist avantgardistisch unterwegs – ein USP des 21.Jahrhunderts. Gleichzeitig ein Statement und eine Handlung in die Re-Humanisierung unserer Systeme des archaischen, menschlichen Daseins. Der Mensch gehört ins Zentrum.» Frank und Patrik Riklin prophezeien die Analogisierung nach der Digitalisierung und empfehlen deshalb Gemeinden und Städten, vermehrt in analoge Konzepte zu investieren. «Analogisiert! Umso digitaler unsere Gesellschaft, desto mehr sollte in das Analoge investiert werden – zumindest mit gleichem Budget», so die Brüder weiter. Was, wenn die Digitalisierung wirklich gestern war? Dann folgt in der Tat die Analogisierung, nicht als Ablösung des Digitalen, sondern als Ergänzung und Rückbesinnung zum Handfesten, zum Konkreten, zum Realen. Nicht zuletzt träumen die Riklins von «analogen Städten», die Wiederentdeckung einer neuen Sinnlichkeit des analogen Erlebens – als Pendant zu den digital gesteuerten Smart Cities und das Innenstadtsterben.

Analogisierung als Ergänzung zur Digitalisierung

«Mit der «Verfädelisierung» leisten wir eine konsequent-analoge Face-to-Face-Langzeitperformance in Ergänzung zur rasanten Entwicklung der Digitalisierungshysterie. «Vieles spricht dafür, es mit der Digitalisierung nicht zu übertreiben, sondern buchstäblich in der Hand zu behalten. Die Entmenschlichung und «Zombisierung» stehen vor der Tür», so die Riklins. Folglich «meisseln» sie am «Körper» des Systems eine andere Wirklichkeit, die zu einer Art «Abwehr- oder Immunsystem menschlicher Instinkte in der Gesellschaft beiträgt». Hinter der vermeintlich sinnlosen Massnahme der Riklin-Brüder versteckt sich ein subversiver Beitrag für eine ungewohnte Vernetzungsarbeit, eine Art Re-Humanisierung, die das zwischenmenschliche Zusammenleben mittels unüblicher Handlung hinterfragt, neu zusammenführt, auf die Probe stellt. «Der Faden ist ein künstlerischer Eingriff in die «Neuroplastizität einer Gesellschaft», worin ungewohntes Denken, Kommunizieren- und Handeln kollektiv trainiert wird – gegen die Verstümmelung menschlicher Intuition und Hirnzonen», philosophieren die Riklins.

Hinweis

Kommenden Samstag, 9. November 2019, 21:25 Uhr, zeigt 3sat in der Sendung «Kunst Hoch 2» eine 45-minütige Dokumentation über die Konzeptkünstler und Zwillingsbrüder Frank und Patrik Riklin. Unter anderem auch vertiefte Einblicke in das inzwischen gescheiterte Vorhaben der Verfädelisierung im Limmattal.

Riklin

Das analoge Fadennetz besteht aus gesammelten Fadenresten aus der Bevölkerung.

Stölzle /  Brányik
Autor/in
Die Ostschweiz

«Die Ostschweiz» ist die grösste unabhängige Meinungsplattform der Kantone SG, TG, AR und AI mit monatlich rund 300'000 Leserinnen und Lesern. Die Publikation ging im April 2018 online und ist im Besitz der Ostschweizer Medien AG, ein Tochterunternehmen der Galledia Regionalmedien.

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