Wanderhirten haben in der Schweiz eine lange Tradition. Franco Vitali aus Poschiavo ist einer von ihnen und läuft derzeit mit 670 Schafen, vier Eseln und drei Hunden durch den Thurgau. Eine solche Winterwanderung mit Hund und Herde steht für idyllische Romantik – ist aber eine knochenharte Arbeit.
Sein Tag beginnt um sieben Uhr. Bis zu dreizehn Stunden ist er unterwegs mit den Schafen. Tag und Nacht ist der Hirte für seine Schafe da. Vier Monate lang, bei jedem Wetter, ohne freien Tag. Ein anstrengender Beruf, aber die Erfüllung seines Lebenstraums. Franco Vitali stützt sich um die Mittagszeit auf seinen Metallstab. Es windet und regnet leicht. «Schafe fressen ungern bei Regen», sagt er, ohne den Blick von der hügeligen Landschaft bei Hittingen TG abzuwenden. Von der Herde dringt das Geräusch des reissenden Grases und das Glöckchengeläute herüber. 670 hungrige Schafe auf einer grossen Wiese auf dem Weg nach Braunau. Seine 18 Schafe und vier Esel haben Glocken um. Allerdings nicht, damit man sie leichter wieder findet. Der Grund: «Ich mag einfach den wunderbaren Klang», sagt der Wanderhirte.
Hirte als Traumberuf
Franco Vitali ist Schäfer und Landwirt. Ein kleiner Mann von 63 Jahren. Er ist ein wacher Geist. Seine Haut ist braun gebrannt und hat Falten. Seit 1990 ist er schon Hirte – drei Dekaden zwischen Schafen, Kühen, Eseln, faszinierenden Landschaften und Einsamkeit an der frischen Luft. Mit 21 Jahren kam der Bauernsohn aus dem nahen Ort Edolo in der italienischen Provinz Brescia ins Puschlav GR – fand Arbeit, heiratete 1984 die Bündnerin Ilaria Rampa (55) aus Poschiavo und blieb.
Hirte zu werden war Franco Vitalis Jugendtraum. Ein guter Hirte war in der Antike ein angesehener Beruf. Hirte war ein Beruf, der viel forderte: Mut und Tapferkeit, da man jeden Tag damit rechnen musste, gegen wilde Tiere kämpfen zu müssen. Denken wir nur an die Aufregung, die bei den Schafsbesitzern Wölfe oder Bären in der Schweiz verursachen. Man kann sich so vorstellen, wie unsicher das Leben für Herden und Hirten zu Zeiten der Bibel in Israel war.
«Direttore» der grossen Schafherde
In zwei Jahren hat Vitali das offizielle Rentenalter erreicht, ans Aufhören denkt er noch nicht. «Was soll ich über den Winter in Südbünden nur tun? Es gibt dann keine Arbeit», erzählt er. Dem freiheits- und tierliebenden Mann gefällt die Anstellung auf Zeit (bis 15. März) in der Schäferei von Fritz Barandun in Oberberg (Gossau). An trockenen Tagen kann er die Schafe besser führen als bei schlechtem Wetter. «Sie fressen bei Nässe nicht so gut, da kann ich die Tiere nicht noch herumscheuchen», sagt Vitali, der sympathische «Direttore d'orchestra», der Dirigent der grossen Schafherde, in seinem bündnerisch-italienisch gefärbten Akzent.
Das Schaf wird seit Jahrtausenden als Haustier gehalten. Heute gibt es zwanzig Arten mit mehreren Gruppen, darunter Wildschafe und Hausschafe. Schafe können sehr unterschiedlich aussehen, haben manchmal Hörner und ganz unterschiedliches Fell. Als Nutztier werden Schafe wegen ihres Fleisches, der Milch und der Wolle gehalten. Ein Schaf kann bis zu 20 Jahre alt werden.
«Sie fressen, bis der Pansen oder Vormagen voll ist. Dann beginnt das Wiederkäuen», erzählt der erfahrene Hirte auf der schmalen Strasse neben der Wiese. Von 12 bis 15 Uhr gibt es eine Ruhepause. Stillstand kommt sonst nicht infrage. «Wir ziehen stetig weiter. Festgetrampeltes oder mit Kot übersätes Weideland ist nicht gut. Alles immer frisch, lautet die Devise. Und momentan gibt es genug frisches Gras – Schnee liegt nur in höheren Berglagen. Die Herde braucht Abwechslung, nur so kann sie bei Laune gehalten werden.
Die Gesundheit der Tiere sind dem Hirten und dem Besitzer sehr wichtig. Der Befall mit Würmern stellt weltweit eines der häufigsten Gesundheitsprobleme bei Schafen und Ziegen dar. Deshalb wurden die Tiere als vorbeugende Massnahmen vor der Wanderung gegen die Parasiten behandelt.
Von 12 bis 15 Uhr gibt es eine Ruhepause. Stillstand kommt sonst nicht infrage. «Wir ziehen stetig weiter. Festgetrampeltes oder mit Kot übersätes Weideland ist nicht gut.» Alles immer frisch, lautet die Devise. Und momentan gibt es genug frisches Gras.
Um die Mittagszeit kommt Barbara Rüttimann aus Altnau am Bodensee vorbei. «Ich kenne Franco von unseren Ferien im Puschlav und freue mich, mit ihm auf Italienisch über Gott und die Welt zu parlieren. Das Zusammenspiel zwischen Hirt und Hund fasziniert mich. Ein kurzer Zuruf genügt und die Hunde wissen genau was zu tun ist.»
Die drei Hütehunde Lori, Var und Rocky haben die Herde im Blick. Vitali dirigiert sie mit einfachen lauten Kommandos in seiner ganz eigenen Sprache. Es tönt wie «Vai!» (Geh!), «Vieni!» (Komm!) und «Resta!» (Bleib!). Sie halten die Schafe auf der Fläche, die gerade beweidet werden soll. Die Hunde bellen kaum, sind ruhig, rennen aber bei Bedarf hin und her. «Wir machen alle täglich zwischen 5-10 Kilometer», sagt Vitali. Mit dabei sind auch die Esel Titti, Nera, Franca und die drei Monate alte Nina. Die schönen und genügsamen Tiere tragen die mobilen Zäune, Werkzeuge und das Essen auf ihren Rücken.
Die Hütehunde Lori, Var und Rocky
Die drei Hütehunde Lori, Var und Rocky haben die Herde im Blick. Vitali dirigiert den Australian Shepherd-Bergamasker Hirtenhund-Mischling, den Border Collie Australian Shepherd sowie einen jungen und reinrassigen Altdeutschen Hütehund mit einfachen lauten Kommandos in seiner ganz eigenen Sprache. Es tönt wie «Vai!» (Geh!), «Vieni!» (Komm!) und «Resta!» (Bleib!). Sie halten die Schafe auf der Fläche, die gerade beweidet werden soll. Die drei Hunde bellen kaum, sind ruhig, rennen aber bei Bedarf hin und her. «Wir machen alle täglich zwischen acht und 15 Kilometer», sagt der Schäfer. Mit dabei sind auch die Esel Titti, Nera, Franca und die einen Monat alte Nina. Die schönen und genügsamen Tiere tragen die mobilen Zäune, Werkzeuge und das Essen auf ihren Rücken.
Hirte Franco sorgt dafür, dass die Schafe gesund bleiben und feiss werden. Er sieht, wenn Schafe krank sind – und nichts mehr fressen. Wenn es mal Schnee hat, zieht der Wanderhirte mit der Herde Richtung Bodensee. Unabhängige Kontrolleure besuchen im Laufe des Winters die Wanderherden.
Für die Weidegebiete im Thurgau sind die Schafherden wie Landschaftspfleger. Die Weidelämmer grasen die Winterweiden ab und leisten damit einen Beitrag zur Vegetation. Sie sind vor allem für die Pflege der Landschaft von Bedeutung, indem sie im Sommer hoch gelegene Alpen beweiden. Sie erhalten beispielsweise Heide-, Trocken- und Halbtrockenwiesen mit ihren seltenen Pflanzen und Tieren. Ohne die sanfte Beweidung würden niedrigwüchsige Pflanzenarten schnell von hochwüchsigen Gräsern und Stauden überwachsen und verdrängt. Ausserdem wird Zucht betrieben und die Schafwolle verkauft. Der Wollertrag deckt nicht einmal den Schurlohn, sagt der Schäfer. Beim 2005 gegründeten Sozialverein «fiwo» zur Förderung innovativer Wollverarbeitung Ostschweiz in Amriswil TG wird rund 1,20 Franken pro Kilo Wolle bezahlt.
Schafe, die den Sommer auf der Alp verbracht haben, wandern zwischen November und März mit den Hirten durch das Schweizer Unterland. Heute sind nur noch 25 bis 35 Wanderhirten im Einsatz.
Früher gab es in der Schweiz viele Schafherden. Viele hüten nicht mehr, die koppeln nur, sagt der Schäfer. Soll heissen: Die Schafe weiden in einem eingezäunten Bereich. Kein Schäfer, keine Hunde. Vitalis Herde ist vom November bis März unterwegs. Nachts sind sie in einem Pferch, der jeden Tag neu aufgebaut wird. Tagsüber ziehen sie umher. Wie früher.
Seit Jahren gehen die Zahlen der Berufsschäfer und der Schafe zurück. Im Vergleich zu Kuh, Schwein oder Geflügel ist die Schafhaltung nur ein kleiner Zweig der Nutztierhaltung. In der Schweiz ist die Zahl der Schafe in den letzten Jahren gesunken. 2018 wurden laut Bundesamt für Statistik 343'470 Schafe gemeldet, 2006 waren es noch 450'000. Lammfleisch ist beliebt: 2016 lag der Pro-Kopf-Konsum in der Schweiz bei rund 1,23 Kilo. Die Inlandproduktion betrug 3'847 Tonnen, der Lammfleischimport 6'612 t und gerade zwei Tonnen wurden exportiert.
Die Angst des Schäfers
Bislang verlief die Wanderschaft der Schafherde problemlos. Wurden ihm schon einmal Schafe gestohlen, von Wölfen gerissen oder durch den Verkehr verletzt? «Nein, alles läuft gut und ich kann gut schlafen», sagt er. Das war Ende Juli 2012 anders, als ein Bär sieben seiner Schafe riss (im Sommer arbeitet er mit seiner Frau Ilaria auf der Alp Palü bei Poschiavo). Am nächsten Abend tauchte der Bär M13 auf der Alp Palü auf und jagte einen seiner Esel, aber liess wieder von ihm ab. «Ich wollte ihn mit meinen Hunden verjagen. Doch der richtete sich etwa zehn Meter vor mir auf», erzählt Franco Vitali. «Das war eine furchteinflössende Situation. Wir sind schnell umgekehrt.» Die Einwanderung des Wolfes in die Schweiz begann 1995. Wird ein Schaf von einem Wolf gerissen, bekommt der Schäfer Geld vom Staat bzw. Kanton – für viele Hirten ist das jedoch kein Trost.
Keine teuren Outdoor-Klamotten
Franco Vital trägt keine teuren Outdoor-Klamotten mit bester Hightech-Membran, sondern setzt auf das einfache Zwiebelprinzip: Eine Kleiderschicht liegt über der anderen. Bis zu sieben alte Pullover und Jacken trägt er. Den Lederhut hat er von der Landi und ist mit einem bunten Wollschal umwickelt. Gute Dienste leisten ihm seine grünen Armeehosen. «Ich bin heute alt, das Blut fliesst nicht mehr so schnell und ich friere viel rascher», sagt er und streicht sich die grauen Barthaare aus dem Gesicht und ruft einem Hund zu, einige abtrünnige Tiere zurückzutreiben. «Ich muss streng sein und den Chef markieren, sonst machen sie mit mir, was sie wollen. Schafe sind nicht lammfromm, vielmehr legen sie es immer darauf an, mich auszutricksen. Sie haben ‹vizi›, das heisst, sie haben – wie alle Tiere – auch Laster, Eigenheiten und schlechte Tugenden. Manche sind hinterlistige Schlingel, die gerne ausreissen.
«Schäfer kann man nicht lernen, das muss man im Blut haben»
«Ich bin mit Franco sehr zufrieden. Er ist ein Hirte alter Schule», sagt Fritz Barandun in Gossau, Besitzer der Schafherde. Barandun, der in einer Schäferei im bündnerischen Domleschg aufgewachsen ist, schaut fast täglich bei seinen Tieren vorbei. Die Familie Barandun sei in ständigem Kontakt mit dem Hirten. Ab und zu bringen sie ihm eine warme Suppe vorbei. Warum will Barandun seine Schafe nicht im Stall lassen? «Sie fühlen sich wohler draussen. Es ist wichtig, dass die Tiere viel Licht bekommen und dass der Wanderhirte Tag und Nacht bei den Schafen ist», sagt Besitzer Fritz Barandun. Er war selbst lange als Wanderhirte mit Hund und Esel unterwegs. Vor 35 Jahren bis nach Landschlacht am Bodensee gewandert. «Wir machten alles ohne Auto und ich schlief im Zelt, nutzten Militärblache für Unterstände», erzählt Barandun. Zwar gibt es heute eine Schweizerische Schafhirtenausbildung, doch Barandun sagt: «Schäfer kann man nicht lernen, das muss man im Blut haben.» Das bestätigt auch Franco Vitali: «Es braucht einfach viel ‹passione›, eine grosse Leidenschaft.»
Seuchenpolizeiliche Bestimmungen
Wanderschäfer, die mit Hunden und einer Schafherde durch die Gegend ziehen, sind seltener geworden. Immer weniger Menschen wollen diesen Jahrtausende alten Beruf ausüben. Wirtschaftlich lohnt sich die Arbeit kaum noch. Dabei spielen die Schäfer eine wichtige Rolle bei der Pflege von Natur- und Kulturlandschaften.
Werden Wanderschafherden über das Gebiet mehrerer Gemeinden getrieben, so bedarf es einer Bewilligung der zuständigen kantonalen Behörde. Diese erlässt für das Treiben seuchenpolizeiliche Bestimmungen nach den Richtlinien des Veterinäramtes. Vom 15. November 2019 bis 15. März 2020 dürfen Fritz Barandun und Franco Vitali ihre Schafe in den Kantonen St. Gallen und Thurgau weiden. Landbesitzer bzw. Bauern können die Beweidung ihrer Grundstückes verbieten.
Hirte schläft im Viehwagen
Sein Quartier ist ein Viehwagen. Sein richtiges Zuhause ist Poschiavo. Dort steht sein Haus, dort wohnt er mit seiner Frau. Während der Wanderzeit schläft Franco Vitali in einem umgebauten Nissan-Viehwagen. «Der Tiertransporter ist isoliert und mit einem Bett, Tisch und Gaskocher ausgerüstet. Heizen kann ich ihn aber nicht. Auch meine drei Hunde schlafen drin», sagt Vitali. Neben einem einfachen Mobiltelefon besitzt der Schäfer als Luxus ein kleines tragbares Sony-Radio. Er hört gerne Volksmusik und Nachrichten auf Rete Uno von Radiotelevisione Svizzera (RSI) oder DRS 1. «Das Gerät ist ideal auf Reisen.»
Nach stundenlangem Fressen und dem scheinbar ziellose Treiben der Schafe, strömen und drängen sie mit dem Hirten zum Gatter des 75 mal 75 Meter grossen Pferch (5'600 m²) aus Flexinetzen, dem Ruheplatz. Sind alle in der eingezäunten Abendraststätte angekommen, greift Franco Vital schnell zu einer Tasse Kaffee und einem Stück Schokolade. Die Kälte ist durchdringend. «Ich habe mich gegen Grippe impfen lassen», sagt der Hirte. Erst wenn die Nacht heranbricht, ist Feierabend.
Franco Vitali steht genauso entspannt auf seinen Hirtenstab gestützt wie vor zehn Stunden – nur an anderer Stelle. Was wünscht sich ein guter Hirte, dem sein Beruf zur Lebensaufgabe geworden ist? «Vor allem Gesundheit, alles andere liegt in Gottes Hand», sagt er. Vielleicht noch, dass er draussen bei den Schafen irgendwann seine letzte Ruhe findet. Psalm 23: «Der Herr ist mein Hirte.»
Urs Oskar Keller (*1955) ist Journalist und Fotoreporter. Er lebt in Landschlacht.
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