logo

Horrorprognosen versus Wirklichkeit

Volle Fussballstadien gehen, Kleinkunst nicht: Wie der Irrsinn normal wird

Das grosse Sterben wurde vorhergesagt, als an der Fussball-EM proppenvolle Stadien im Fernsehen zu sehen waren. Es blieb aus. Nicht einmal ein Ansteckungsherd waren die Grossveranstaltungen. Aber ein beschauliches Kleinkunstfestival in St.Gallen muss die Waffen strecken. Wo ist da die Logik?

Stefan Millius am 23. Juli 2021

Staatschefs äusserten sich kritisch, der selbsternannte Gesundheitsapostel Karl Lauterbach warf dem Verband Uefa präventiv vor, mit der Durchführung der Fussball-EM inklusive Publikum für viele Tote verantwortlich zu sein. Dass in den Fussballarenen quer durch Europa zehntausende von Fans auf den Rängen mitfieberte, galt vielen als Todsünde. Immerhin sassen sie dicht geballt und ohne Maske.

Nun haben Prognosen den Vorteil, dass sie im Nachhinein überprüft werden können. Das «Redaktionsnetzwerk Deutschland», alles andere als ein massnahmenkritischer Verbund, hat überprüft, wie sich der Grossanlass in Sachen Corona ausgewirkt hat. Die Ausbeute ist gelinde gesagt bescheiden. Es gibt einen Bericht von der europäischen Gesundheitsbehörde ECDC. Sie spricht von über 2500 Corona-Infektionen «im Zusammenhang mit der EM».

Nun haben wir also mal eine Zahl. Aber: «Zusammenhang» ist ein wunderschönes Wort, das weit ausgelegt werden kann. Denn dieselbe Behörde stellte in ihrer Studie fest, es sei nicht sicher, wo sich die bewussten Fans angesteckt hätten. In den Stadien? In den Fanzonen? Theoretisch möglich. Ebenfalls möglich sei aber, dass es auf der Reise oder bei privaten Treffen im Umfeld der Spiele passiert sei.

Man kann es auch anders ausdrücken: Die ECDC hat keinen blassen Schimmer. Sie hat nur eine Zahl. Und wie verlässlich Testzahlen sind, darüber muss man gar nicht erst sprechen.

Es kommt aber noch besser. Von diesen 2500 Fällen soll Schottland allein mit fast 2000 Angesteckten betroffen sein. Und weitere über 400 waren es in Finnland. Dann wären wir also bereits so gut wie bei den 2500. Es scheint also kein Fussballproblem zu sein, sondern eine Art schottisch-finnisches Problem, woher auch immer es kommt.

Weil aber auch eine Handvoll Fälle aus Dänemark, Frankreich, Schweden, Kroatien und den Niederlanden gemeldet wurden, konnte man danach die knackige Schlagzeile kreieren, als Folge der Fussball-EM seien in sieben Ländern Ansteckungen aufgetreten. In Deutschland beispielsweise wurden laut Behörden 18 Zuschauerinnen und Zuschauer, die in München im Stadion waren, infiziert.

18 Leute. Von mehreren 10'000 Zuschauern.

Die Uefa reagierte schnell. Sie verwies genüsslich darauf, dass die schottischen Fans im Wembley-Stadion ausnahmslos getestet waren. Und da in London auch abseits einer Europameisterschaft die Menschendichte nicht unbedingt tief ist, scheint es ziemlich verwegen, den Fussballverband oder die EM verantwortlich zu machen.

Dass an der EM coronatechnisch so gut wie nichts passiert ist, zeigt auch die Tatsache, dass Panikschlagzeilen nach den Horrorprognosen ausblieben. Hätte das Virus unter den 60'000 Menschen im Wembley-Stadion grassiert, hätten wir das danach mehrere Wochen lang täglich lesen können. In Wahrheit ist eben so gut wie nichts passiert. Oder vielleicht doch: Es wurde der Beweis angetreten, dass Grossveranstaltungen mit dicht gedrängtem Publikum möglich sind, ohne dass danach das Gesundheitssystem kollabiert. Es ist also das Gegenteil von dem geschehen, was Lauterbach und Co. vermutlich insgeheim gern gehabt hätten.

Was das mit uns zu tun hat? Soeben musste das Strassenkunstfestival «Aufgetischt» in St.Gallen ein weiteres Mal abgesagt werden. Nicht, weil echte Gefahr droht, sondern weil die Veranstalter die Kontrollauflagen nicht vollziehen können. Diese Auflagen wiederum sind mit Blick in die Stadien in London oder Budapest allerdings nur ein schlechter Witz. 60'000 enthemmte Fussballfans können Seite an Seite jubeln, ohne dass etwas passiert, aber 50 Leute dürfen einem Feuerspucker in der St.Galler Altstadt nicht zuschauen? Weil sonst alle sterben? Ernsthaft?

Das Problem ist: Die Prognose überwiegt die Realität, die Angst sticht das Ergebnis aus. Es nützt nichts, dass die Apokalypse an der Fussball-EM ausgeblieben ist. Es reicht, dass im Vorfeld Panikszenarien skizziert wurden. Dass sie danach nicht eintrafen, liest man kaum irgendwo, während die Ankündigung des Unheils die Schlagzeilen beherrschte. Damit bleibt nur diese in den Köpfen haften.

Und deshalb hat sich der gesunde Menschenverstand endgültig verabschiedet.

Einige Highlights

Uzwilerin mit begrenzter Lebenserwartung

Das Schicksal von Beatrice Weiss: «Ohne Selbstschutz kann die Menschheit richtig grässlich sein»

am 11. Mär 2024
Im Gespräch mit Martina Hingis

«…und das als Frau. Und man verdient auch noch Geld damit»

am 19. Jun 2022
Das grosse Gespräch

Bauernpräsident Ritter: «Es gibt sicher auch schöne Journalisten»

am 15. Jun 2024
Eine Analyse zur aktuellen Lage

Die Schweiz am Abgrund? Wie steigende Fixkosten das Haushaltbudget durcheinanderwirbeln

am 04. Apr 2024
DG: DG: Politik

«Die» Wirtschaft gibt es nicht

am 03. Sep 2024
Gastkommentar

Kein Asyl- und Bleiberecht für Kriminelle: Null-Toleranz-Strategie zur Sicherheit der Schweiz

am 18. Jul 2024
Gastkommentar

Falsche Berechnungen zu den AHV-Finanzen: Soll die Abstimmung zum Frauenrentenalter wiederholt werden?

am 15. Aug 2024
Gastkommentar

Grenze schützen – illegale Migration verhindern

am 17. Jul 2024
Sensibilisierung ja, aber…

Nach Entführungsversuchen in der Ostschweiz: Wie Facebook und Eltern die Polizeiarbeit erschweren können

am 05. Jul 2024
Pitbull vs. Malteser

Nach dem tödlichen Übergriff auf einen Pitbull in St.Gallen: Welche Folgen hat die Selbstjustiz?

am 26. Jun 2024
Politik mit Tarnkappe

Sie wollen die angebliche Unterwanderung der Gesellschaft in der Ostschweiz verhindern

am 24. Jun 2024
Paralympische Spiele in Paris Ende August

Para-Rollstuhlfahrerin Catherine Debrunner sagt: «Für ein reiches Land hinkt die Schweiz in vielen Bereichen noch weit hinterher»

am 24. Jun 2024
Politik extrem

Paradox: Mit Gewaltrhetorik für eine humanere Gesellschaft

am 10. Jun 2024
Das grosse Bundesratsinterview zur Schuldenbremse

«Rechtswidrig und teuer»: Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnt Parlament vor Verfassungsbruch

am 27. Mai 2024
Eindrucksvolle Ausbildung

Der Gossauer Nicola Damann würde als Gardist für den Papst sein Leben riskieren: «Unser Heiliger Vater schätzt unsere Arbeit sehr»

am 24. Mai 2024
Zahlen am Beispiel Thurgau

Asylchaos im Durchschnittskanton

am 29. Apr 2024
Interview mit dem St.Galler SP-Regierungsrat

Fredy Fässler: «Ja, ich trage einige Geheimnisse mit mir herum»

am 01. Mai 2024
Nach frühem Rücktritt: Wird man zur «lame duck»?

Exklusivinterview mit Regierungsrat Kölliker: «Der Krebs hat mir aufgezeigt, dass die Situation nicht gesund ist»

am 29. Feb 2024
Die Säntis-Vermarktung

Jakob Gülünay: Weshalb die Ostschweiz mehr zusammenarbeiten sollte und ob dereinst Massen von Chinesen auf dem Säntis sind

am 20. Apr 2024
Neues Buch «Nichts gegen eine Million»

Die Ostschweizerin ist einem perfiden Online-Betrug zum Opfer gefallen – und verlor dabei fast eine Million Franken

am 08. Apr 2024
Gastkommentar

Weltweite Zunahme der Christenverfolgung

am 29. Mär 2024
Aktionswoche bis 17. März

Michel Sutter war abhängig und kriminell: «Ich wollte ein netter Einbrecher sein und klaute nie aus Privathäusern»

am 12. Mär 2024
Teuerung und Armut

Familienvater in Geldnot: «Wir können einige Tage fasten, doch die Angst vor offenen Rechnungen ist am schlimmsten»

am 24. Feb 2024
Naomi Eigenmann

Sexueller Missbrauch: Wie diese Rheintalerin ihr Erlebtes verarbeitet und anderen Opfern helfen will

am 02. Dez 2023
Best of 2023 | Meine Person des Jahres

Die heilige Franziska?

am 26. Dez 2023
Treffen mit Publizist Konrad Hummler

«Das Verschwinden des ‘Nebelspalters’ wäre für einige Journalisten das Schönste, was passieren könnte»

am 14. Sep 2023
Neurofeedback-Therapeutin Anja Hussong

«Eine Hirnhälfte in den Händen zu halten, ist ein sehr besonderes Gefühl»

am 03. Nov 2023
Die 20-jährige Alina Granwehr

Die Spitze im Visier - Wird diese Tennisspielerin dereinst so erfolgreich wie Martina Hingis?

am 05. Okt 2023
Podcast mit Stephanie Stadelmann

«Es ging lange, bis ich das Lachen wieder gefunden habe»

am 22. Dez 2022
Playboy-Model Salomé Lüthy

«Mein Freund steht zu 100% hinter mir»

am 09. Nov 2022
Neue Formen des Zusammenlebens

Architektin Regula Geisser: «Der Mensch wäre eigentlich für Mehrfamilienhäuser geschaffen»

am 01. Jan 2024
Podcast mit Marco Schwinger

Der Kampf zurück ins Leben

am 14. Nov 2022
Hanspeter Krüsi im Podcast

«In meinem Beruf gibt es leider nicht viele freudige Ereignisse»

am 12. Okt 2022
Stölzle /  Brányik
Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.