In ihrem Debütroman «Bild ohne Mädchen» zeichnet die Ostschweizer Autorin Sarah Elena Müller die Kindheit eines Mädchens nach, von dem der Nachbar Unmengen an Film- und Bildmaterial aufgenommen hat. Ein feiner Roman über pädopornografischen Missbrauch und was das mit Opfern machen kann.
Klappentext:
Die Eltern des Mädchens misstrauen dem Fernsehen, aber beim medienaffinen Nachbarn Ege darf es so lange schauen, wie es will. Eges Wohnung steht voller Geräte, und er dreht Videos, die nie jemand sehen will. Das Mädchen darf in Eges Filmen mitspielen. Hinter der Kamera steht Gisela, seine Partnerin. Aber meist sitzt Ege in seiner verdunkelten Wohnung, verachtet die Welt und trinkt. Gisela wohnt im oberen Stock und entsorgt die leeren Weinflaschen. Die Eltern sind überfordert mit dem Kind, das sein Bett nässt und kaum spricht. Der Vater ist Biologe und wendet sich lieber bedrohten Tierarten zu. Die Mutter bildhauert und ist mit ihrer Kunst beschäftigt. Ein Heiler soll helfen. Das Mädchen sucht Zuflucht bei einem Engel, den es auf einer Videokassette von Ege entdeckt hat. Und wirklich, der Engel hält zu ihm. Durch dieses Kabinett der Hilf- und Sprachlosigkeit nähert sich Sarah Elena Müller dem Trauma einer Familie, die weder den Engel noch die Gefährdung zu sehen imstande ist. Und von der Grossmutter bis zum Kind entsteht ein Panorama weiblicher Biografien seit dem grossen Aufbruch der Sechzigerjahre.
Einschätzung:
Das Kind im vierteiligen, gut 200-seitigen Roman der Ostschweizer Autorin Sarah Elena Müller verirrt sich bereits im Vorschulalter in seinem widersprüchlichen, ideologisch verzerrten Umfeld, als es beim Nachbar auf pädopornografisches Filmmaterial stösst. Da ihm niemand erklären kann, was es gesehen hat, füllt es die beschwiegene Lücke mit eigenen Annahmen auf, während die Beteiligten und Betroffenen rundherum mit ihrem Trotz und ihren Verletzungen ringen oder gänzlich abwesend sind. Als das Kind dem Urheber schliesslich zu nahekommt, wird es selbst filmisch festgehalten, flieht aus seinem Körper und in unzählige Zwiegespräche mit einem Engel und andere Fantasiewelten.
Das macht die Lektüre zuweilen etwas anstrengend, weil man immer wieder aus dem Erzählfluss herausgerissen wird und sich in den zum Teil wirren Konversationen mit dem Geistwesen verirrt. Andererseits ist es der Autorin auf beeindruckende und feine Art und Weise gelungen, die Aufwachsen eines Mädchens mit Worten nachzuzeichnen, die sorgfältig gewählt wurden, ohne dass der Roman je abgehoben, allzu anklagend oder gar elitär wirken würde.
Gerade im letzten Teil nimmt die Erzählung richtig an Fahrt auf. Fast wünschte man sich, die Autorin hätte die Energie und Ausführlichkeit, die sie für den fast 100-seitigen ersten Teil aufgewandt hat, etwas gleichmässiger über alle vier Teile des Buchs verteilt hätte.
**«Bild ohne Mädchen» ist am 1. Februar im Limmat-Verlag erschienen. Die Buchvernissage findet am 14. Februar 2023 um 20 Uhr in der Buchhandlung Stauffacher in Bern statt. Am 20. April liest Sarah Elena Müller im Bücherladen Marianne Sax, Zürcherstrasse 183 in Frauenfeld, aus ihrem Debütroman vor. **
Michel Bossart ist Redaktor bei «Die Ostschweiz». Nach dem Studium der Philosophie und Geschichte hat er für diverse Medien geschrieben. Er lebt in Benken (SG).
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