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Zeyer zur Zeit

Von Ameisen und Journalisten

Wenn ich Djokovic sage, geht sicher ein leises Stöhnen durch die Reihen der Leser. Ich verspreche aber, weder zu langweilen noch längst Bekanntes zu wiederholen.

«Die Ostschweiz» Archiv am 16. Januar 2022

Kriegt ein Visum. Kriegt das Visum weggenommen. Kriegt das Visum vom Richter wieder zugesprochen. Kriegt das Visum vom Minister weggenommen. Australien verabschiedet sich als Rechtsstaat. Und keinem Schweizer Journalisten fällt das auf.

Inzwischen ist zum Fall Djokovic von allen alles auf alle Arten gesagt worden. Es hat sich sogar eine Ameisenmühle gebildet. Unter diesem Phänomen leiden die Ameisen genauso wie auch die Journalisten.

Bei den Ameisen ist es so: da die Tiere blind sind, folgen Wanderameisen den Botenstoffen ihrer vorangehenden Artgenossen. Das ist gut und sinnvoll – ausser, der Ameisenzug kreuzt seine eigene Spur. Dann kann es passieren, dass die Insekten anfangen, im Kreis zu laufen. Damit verstärkt sich natürlich der Botenstoff, also kommen sie aus der Nummer nicht mehr raus.

Normalerweise endet so eine Ameisenmühle mit dem Tod durch Erschöpfung. Bei Journalisten ist es nicht so dramatisch. Wenn sie in einen solchen Strudel geraten – zum Beispiel zum Thema, ob ein Tennisspieler in Australien Tennis spielen darf oder nicht –, dann nehmen auch immer mehr Schreiberlinge Witterung auf, schreiben mit, schreiben ab und schreiben vor allem in die gleiche Richtung.

Dann schreiben sie noch ein wenig übers Schreiben, geben Ratschläge, verteilen Betragensnoten, fordern mit wackelndem Zeigefinger Moral, Ethik und Anstand ein – und irgendwann sind sie es leid und suchen nach einer neuen Mühle.

Die Ameisen können ja nichts dafür, aber bei Journalisten ist es beelendend, wie alle uniform in die gleiche Richtung schreiben und laufen. Dabei gäbe es doch bei jedem solchen Kampagnenthema interessante Aspekte, die beleuchtet werden könnten.

Zum Beispiel? Zum Beispiel die grausame australische Flüchtlingspolitik. Zum Teil über Jahre hinweg sitzen arme Schweine, die sich keine Anwälte leisten können, in Abschiebeknästen fest. Tausende von Asylsuchenden vegetieren in Internierungslagern «offshore», also beispielsweise auf Papua-Neuguinea.

Diese Lager werden von Privatfirmen betrieben, die ein Minimalangebot mit maximalem Profit verbinden. Abschiebeknast in einem Hotel, wie es dem Tennisspieler widerfuhr, ist schon die Luxusvariante. Das wäre doch ein interessantes Thema. Aber dazu müsste man die Ameisenmühle verlassen.

Ein zweites interessantes Thema ist die Absurdität, dass zwar die einzelnen Bundesländer ein Visum ausstellen können, das aber jederzeit von der Zentralregierung für ungültig erklärt werden kann. Genau ein solches Visum besass der Tennisspieler, der ja nicht einfach auf gut Glück nach Australien reiste.

Wie auch schon mancher Schweizer bei einem Einreiseversuch in die USA erleben musste: mit oder ohne Visum, es gibt im angelsächsischen Raum keine Einreisegarantie. Es ist dem Ermessen – oder der Willkür – des Beamten überlassen, ob er den Daumen hebt oder senkt.

Ich war mal zu faul, die dämliche Frage auf dem Einreiseformular in die USA zu beantworten, wo genau man abzusteigen gedenke. Ich schrieb einfach «Hotel» auf die entsprechende Linie. Das wurde dann moniert, und als ich noch den Fehler machte, «come on» zu sagen, entging ich der sofortigen Rückreise nur durch mehrfache, zerknirschte Entschuldigungen.

Nach ein paar schweisstreibenden Momenten entschied der Beamte, dass ich das Formular neu und vollständig auszufüllen habe, nochmal zuhinterst in seiner Schlange mich anstellen müsse und mich beim zweiten Vorstellen anständig zu benehmen habe.

Jeder, absolut jeder ist hier einer ziemlich weitgefassten Willkür ausgeliefert. Wer zum Beispiel nur ein Touristenvisum besitzt und so blöd ist, bei der Einreise anzugeben, dass er ein Interview zu führen gedenke oder anderweitig journalistisch tätig sein möchte, hat ebenfalls eine grosse Chance, stattdessen im gleichen Flieger wieder nach Hause geschickt zu werden.

Wäre auch ein Thema, aber eben, Ameisenmühle.

Damit nicht genug. Es ist offenbar so, dass es der willkürlichen Entscheidung eines Ministers vorbehalten ist, ob ein gerichtlich festgestellter Tatbestand – der Tennisspieler darf einreisen – anerkannt wird oder nicht. Das ist rechtsstaatlich ungeheuerlich.

Man stelle sich vor: In der Schweiz kommt ein Gericht zu einem Urteil. Anschliessend sagt ein Bundesrat: wisst Ihr was, das passt mir nicht, overruled. Ich entscheide das Gegenteil. Das ist ein eklatanter Verstoss gegen ein heiliges Grundprinzip der Gewaltentrennung.

Gesetze werden im Parlament gemacht, die Regierung hat sich daran zu halten, und die Judikative kontrolliert deren Einhaltung. Staatskunde, erste Lektion. Existiert diese Gewaltenteilung nicht, spricht man gerne und schnell von autoritären Regierungsformen, von Willkür, vom Fehlen grundlegender Prinzipien. Wie sieht das im Fall Australiens aus?

Auch zumindest ein interessanter Aspekt. Aber, genau, nichts für journalistische Ameisen.

Noch ein Thema: Kann man nun annehmen, dass der zuständige Minister seine Entscheidung ausschliesslich aufgrund der möglichen Gefährdung der öffentlichen Gesundheit durch den Tennisspieler treffen wird? Wer an den Weihnachtsmann, Wunder und Geister glaubt, mag das annehmen. Angesichts bevorstehender Wahlen, der internationalen Aufmerksamkeit für den Fall, angesichts der Frage, mit welcher Entscheidung die Partei des Ministers genügend Stimmen erhält, damit er weiterhin im Amt bleibt, spielt das wohl eine sehr, aber sehr untergeordnete Rolle.

Genau solche fragwürdigen Konstellationen entstehen, wenn die saubere Trennung zwischen Judikative und Exekutive durchlöchert wird. Das sind doch alles interessante Aspekte, die es wert wären, vertieft durchleuchtet und publizistisch aufbereitet zu werden.

Aber im Spar- und Elendsjournalismus der grossen Medienhäuser haben solche Ausflüge aus der Ameisenmühle keinen Platz. Lieber darf noch der allerletzte Redaktor seinen Senf dazugeben, was er von der Person, der Nationalität und dem Verhalten des Tennisspielers so hält. Als ob das noch irgend jemanden interessieren würde.

(Bild: Christian Mesiano / Wikimedia)

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