Die Erosion der Freiheit begann nicht 2020, sondern 1989. – Zugegeben, eine gewagte These! Ausgerechnet das Jahr 1989, als der Westen den Sieg über den Kommunismus feierte, soll der Startschuss für den Niedergang der Freiheit gewesen sein?
Auch oder gerade weil das Thema Freiheit wegen der Corona-Massnahmen in aller Munde ist, lohnt es sich, etwas weiter zurückzuschauen. Die Zeitspanne der Freiheit, in der der Mensch sich weitgehend nach seinen eigenen Lebenszielen und Moralvorstellungen frei entwickeln konnte – also im Sinne dieses Textes «frei» ist – ist extrem kurz. Und kurz steht hier nicht in Relation zu einer Vergleichsperiode von wenigen Jahrzehnten oder Jahrhunderten, sondern für die Vergleichsperiode der gesamten, Jahrtausende andauernden Geschichte der Zivilisation. Die Geschichtsbücher, die Weltliteratur und die religiösen Schriften quellen über mit Erzählungen über die Tyrannei, sie sind vollgestopft mit der Sehnsucht nach Freiheit und mit Rezepten zur Erlangung ebendieser.
Doch diese Freiheit war selbst in jüngerer Zeit bloss ein frommer Wunsch. Wurde sie nicht durch eine kleine Kaste sehr mächtiger Individuen verhindert, so wurde sie durch Moralvorstellungen in Schach gehalten. Ich stelle hier die These in den Raum, dass wir den Status Freiheit, von dem so viele träum(t)en, den Status, wie wir ihn kennen und schätzen, dass wir diesen Status erst vor etwa fünfzig Jahren erreicht haben. Zugegeben, diese Zeitangabe mag willkürlich wirken, doch vor die sexuelle Revolution und vor die Entwicklung der Freiheitsrechte der Frau möchte niemand gehen und vor den zweiten Weltkrieg schon gar nicht.
Aber es geht hier gar nicht um die historisch exakte Terminierung, es geht darum, dass diese Freiheit, in der Geschichte der Zivilisation eine äusserst kurze Zeitspanne belegt. Legt man das Augenmerkt nicht nur auf die Zeitspanne, sondern auch auf die Population und die Geographie, so wird der hohe Wert dieses raren Gutes umso offensichtlicher. Nur der kleinere Teil der Welt kam bisher in den Genuss der Vorzüge dieser Freiheit. Zählt man alle Regionen mit autoritären Regimen ab – zu diesen gehören selbstredend auch alle früher (und heute) kommunistisch regierten Teile der Welt – dann bleibt auf der Landkarte nicht mehr viel übrig.
Aber warum soll dieser vermeintliche Sieg der Freiheit ausgerechnet 1989 einen Dämpfer erlitten haben, dessen Auswirkungen wir erst viel später spüren sollten? Schliesslich siegte im Systemkampf die Freiheit über die Unterdrückung.
Seit dem zweiten Weltkrieg bis 1989 war die Welt zumindest bezüglich Freiheit einfach zu verstehen. Der kalte Krieg war ein Krieg der Ideologien. Ein Krieg, in dem sich zwei Blöcke gegenüberstanden, deren Eliten ein Menschenbild zeichneten, das unterschiedlicher nicht sein konnte. Und wie so häufig, wenn zwei extrem gegensätzliche Positionen aufeinandertreffen, findet eine Abgrenzung mit allen erdenklichen Mitteln statt. Zwei wesentliche Mittel dazu waren im besagten Fall die systemunterstützenden Regulierungen und die Indoktrination von Lebensentwurfsideen durch Propaganda. Der Westen versuchte sich in diesem Spiel vom Osten abzugrenzen, indem er genau das förderte, was der Osten so vehement ablehnte: Die Freiheit des Individuums.
Nach 1989 änderte sich etwas Wesentliches. Die intrinsische Motivation, sich vom Kollektivismus abzugrenzen, verschwand von einem Tag auf den anderen. Natürlich wusste man von den Errungenschaften über die Freiheit, aber mit der Angst, man könnte dem Kommunismus unterliegen, verschwand auch die Bereitschaft, die Freiheit weiterhin mit allen Mitteln zu verteidigen. Der Feind war besiegt. Ja, besiegt, vorläufig, denn wir alle haben die Rechnung ohne den Aspekt der Macht gemacht.
Viele sind heute der Auffassung, die Freiheit sei eine Art Naturgesetz: Es herrscht weitläufig die Meinung, man könne die Grundsätze der Freiheit, ähnlich wie die Newtonschen Gesetze der Mechanik, einfach in ein Buch schreiben und für deren Etablierung und Erhalt sorge dann dieselbe unsichtbare Hand wie bei den Gesetzen der Physik.
Das Gegenteil ist der Fall! Die Geschichte zeigt immer wieder, und die jüngsten Ereignisse machen es sehr deutlich: Die Verfassungen sind offensichtlich kein Garant für die Freiheit. Wenn es ein gesellschaftliches Naturgesetz gibt, dann ist es dieses: Wo immer die Möglichkeit besteht Macht auszubauen, passiert dies.
Jedes Machtvakuum wird ausgefüllt, jedes Machtgefälle wird ausgenutzt. Wenn dies nicht durch andauernde Gegenmassnahmen verhindert wird, entsteht eine Machtkonzentration. Und genau diese Machtkonzentration ist der grösste Feind der Freiheit. Es war naiv von uns allen, zu glauben, die Stellen an der Macht würden sich nach 1989 zurücklehnen und uns unser Leben leben lassen oder sich weiterhin für die Freiheit einsetzen. Die Motivation von Macht war noch nie Freiheit, auch im kalten Krieg nicht. Die Motivation von Macht ist Machtausbau. Und genau diese Macht gilt es in einem dauernden Kampf in Schach zu halten. Selbst die extremsten Verfechter der freien Märkte sehen ein, dass eine zu hohe Machtkonzentration zur Zerstörung ebendieser Märkte führt. Dies ist der Grund für die Installation der Kartellregulierungen.
Doch wer reguliert Macht in einer freien Gesellschaft? Wer ist die Kartellbehörde der gesellschaftlichen Freiheit? Das sind wir. Das muss jeder Einzelne von uns sein. Niemand anders, schon gar nicht irgendwelche Instanzen mit Macht werden diese Freiheit verteidigen. Diese Aufsichtspflicht haben wir in unserem Glauben an einen dauerhaften Sieg sträflich vernachlässigt, indem wir die Verantwortung für unser eigenes Leben immer mehr an Andere delegiert haben.
Nun zur Erosion der Freiheit: Über den Begriff Freiheit wurden bereits alle denkbaren Streitgespräche geführt und viele Denker haben Bücher damit gefüllt. Um die Erosion konkret zu messen, könnte man sich eine Definition herauspicken und eine Gesellschaft zu verschiedenen Zeitpunkten an dieser Definition messen. Wer jedoch die Gesellschaft aufmerksam beobachtet, merkt auch ohne dieses akademische Spiel, dass die Erosion der Freiheit in vollem Gange ist. Sie kam zu Beginn nur schleichend, fast unbemerkt. Sie kam in Form von Zentralisierung der Verantwortung (weg von der Gemeinde, hin zum Nationalstaat, ja sogar weg vom Nationalstaat hin zu staatsübergreifenden Organisationen). Sie kam in Form von neuen Moralvorstellungen, mit entsprechender Ahndung bei Nichteinhaltung. Sie kam in Form von Gleichschaltung der grossen Medien. Sie kam in Form von gezielten Einschränkungen freiheitlicher Grundsätze. Sie kam in Form von Diffamierungen und Ausgrenzungen Andersdenkender. Sie kam in Form von immer mehr Verboten und Vorschriften, die sich über alle Bereiche des Lebens und Wirtschaftens hinwegstrecken. Sie kam in Form eines immer grösser werdenden Kontrollapparates – nennen wir ihn Staatsadministration und bewusst nicht Staat – der nicht nur jedem Einzelnen immer genauer auf die Finger schaut, sondern sich auch noch auf dessen Leistungen ausruht.
Alle Kritiker und Warner dieser Entwicklung wurden über Jahre belächelt, diffamiert und in sogenannt «untragbare» politische Ecken gedrückt. Mit der fortschreitenden technologischen Entwicklung, insbesondere der Informationstechnologie, hat sich diese Erosion beschleunigt. Von schleichend kann nämlich nicht mehr die Rede sein, wenn innerhalb von eineinhalb Jahren, mit welcher Begründung auch immer, ein (Zertifikats-)Apartheitsregime installiert wird. Immerhin ist der Vorteil einer beschleunigten Entwicklung, dass sie nun für jedermann sichtbar ist.
Egal wie man diese Entwicklungen bewertet, eines ist gewiss: Die Freiheit ist ein rares Gut, und ist sie einmal weg, kommt sie vielleicht für Jahrhunderte nie wieder. Denn diesmal, wenn alle auf Linie sind, und danach sieht es aktuell aus, gibt es keinen «Westen» mehr, der uns rettet. Es ist Zeit aufzuwachen, es steht zu viel auf dem Spiel. Wir sind es denen schuldig, die viele Kriege und Revolutionen geführt haben, um sich von der Macht zu lösen und für welche die Freiheit trotzdem nur ein Traum blieb. Und wir sind es den kommenden Generationen schuldig.
Olaf Hermann hat nach seinem Studium der Elektrotechnik an der ETH Zürich für einige Jahre mathematische Modelle für industrielle Prozesse entwickelt. Danach hat er in der Finanzdienstleistungsbranche mehrere Unternehmen gegründet, (mit)aufgebaut sowie operativ geführt.
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