Bilder: Inga Buchinger
Nach dem nötigen Papierkrieg schaffte es unser Autor Wolf Buchinger vom thurgauischen Erlen endlich nach Konstanz. Er traf auf Verzweiflung und Hoffnung und viele visuelle Eindrücke einer ausserordentlichen Lage - für beide Seiten.
Bilder: Inga Buchinger
Wann geht endlich die Tür auf?
Der Zaun war bisher nur ein Zaun, nun ist er zum Kunstwerk geworden, das bald wie die Mauer in Berlin in die Geschichte eingehen wird. Viele Kreative haben ihn mit Minikunstwerken verschönert. Liebesbriefe hängen daran: «I miss you so much.» Grüsse an Verwandte: «Opa Lutz, wir dürfen dich nicht besuchen!». Internationale Emotionen: «Ich weine um mein Europa.»
Und jeden Morgen, Punkt 9.30 Uhr, wird auf der Schweizer Seite eine Picknickdecke hingelegt, darauf Thermoskanne, Kekse, Rüeblitorte. Auf der deutschen Seite gegenüber dasselbe mit Erdbeerkuchen. «Wir haben uns im doofsten Moment der Geschichte verliebt, kurz vor der Grenzschliessung, und nun treffen wir uns jeden Morgen für zwei Stunden hier am selben Platz.»
Elisabeth aus Kreuzlingen, Joe aus Konstanz zelebrieren ihre Liebe bei jedem Wetter und bei jeder Temperatur. Sie wirken entstresst, weil sie sich auf drei Meter Distanz sehen können und sie besprechen jedes Detail ihrer Beziehung, sicher auch den Moment, wenn sich die Tür öffnet.
Als Symbol auch ihrer unglücklichen Zweisamkeit ist ein 15 Meter-Kunstwerk aus symbolträchtigen rotweissen Klebebänder entstanden:
KREUZTANZ, es wird auch in die Geschichte eingehen.
Je später der Tag, umso mehr Menschen treffen sich hier diesseits und jenseits. Manche sind zu früh oder der Partner zu spät, es herrscht eine sichtbare Nervosität, ausgedrückt in Dauerrauchen und Imkreisgehen. Und dann endlich sind wieder Zwei am Zaun vereint. Tränen wie am Grab, Schluchzen wie am Krankenbett, zögerndes Winken und auch mal Fluchen wie es auf einem Zettel am Zaun steht: «Zurück in alte Zeiten?»
Joe hat eine neue zwischenmenschliche Erfahrung gemacht: Er lebte bisher ganz in seiner vollelektronischen Welt, doch „alle Kontakte via Bildschirm ersetzen niemals den direkten Kontakt, auch wenn unnötige drei Meter dazwischen sind.“
Gesagt im Jahr 2020 nach Christus.
Wolf Buchinger (*1943) studierte an der Universität Saarbrücken Germanistik und Geografie. Er arbeitete 25 Jahre als Sekundarlehrer in St. Gallen und im Pestalozzidorf Trogen. Seit 1994 ist er als Coach und Kommunikationstrainer im Management tätig. Sein literarisches Werk umfasst Kurzgeschichten, Gedichte, Romane, Fachbücher und Theaterstücke. Er wohnt in Erlen (TG).
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.